Till Angersbrecht

Ego - oder das Unglück, ein Mann auf dem Mars zu sein


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Quell des Himmlischen Lichts

      Endlich angekommen! Vor ihnen öffnete sich die Bagronitschlucht mit dem breiten Tal und von einem Moment auf den anderen blickten sie auf den Berg des Himmlischen Lichts. Vorläufig war der allerdings noch ein ganz gewöhnlicher, wenn auch ziemlich hoch aufragender Fels, beleckt und in seinen Ausbuchtungen bekleckert von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne.

      Ella fuhr mit voller Geschwindigkeit in das Tal, um dann so stark auf die Bremse zu steigen, dass der Wagen mit blockierten Rädern ein ganzes Stück über die Piste aus Rollsplitt glitt. Das war so ihre Art und machte ihr großes Vergnügen. Natürlich wollte sie Ego damit noch einmal einen kräftigen Schrecken einjagen, und ihr zu Gefallen tat dieser auch so, als wäre ihr dieses Vorhaben gelungen. In Wahrheit hatte er sie aber bereits durchschaut und rechnete von vornherein mit derartigen Launen. Ego hatte die Hände rechtzeitig gegen die Armaturen gestemmt, sonst wäre er mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geprellt.

      Sie zogen sich lachend die Helme über den Kopf, hingen einander gegenseitig die Sauerstoffflaschen über den Rücken und sprangen aus dem Gefährt. Gerade schickte sich die rot glühende Sonne an, über den Horizont hinter dem Berg in die Nacht zu rollen.

      Kaum war sie abgetaucht, als augenblicklich tiefste Dunkelheit wie ein schwarzes Tuch über sie fiel. Im gleichen Augenblick spürte Ego an seinen Händen die schneidende Abendkälte, die ihm bis unter die dick gepolsterten Ärmel drang. Von Süden her drang allerdings ein bläulicher Schimmer, denn Freund Phobos, der kleine Mond, den sie auch den Geliebten Eanas nennen, tropfte ein lächerliches Rinnsal matten Lichts auf sie hinab.

      Sie waren die letzten hundert Meter zu Fuß gegangen, bis dorthin, wo die wartenden Menschenmassen sich zu einer schwarzen Masse verklumpten. Und dann geschah es: das große Wunder, um dessentwillen sie alle gekommen waren. Das Wunder, welches die Marsbewohner jedes Mal wieder zum Staunen bringt. Unmittelbar nach dem Untergang der Sonne geschieht es jeden Tag immer von neuem und wird noch dann geschehen, wenn das All längst geschrumpft und alle Menschen gestorben sind. Aus dem scheinbar toten Felsen sprudelt, kocht und schäumt es hervor: grüne und blaue Kaskaden von Licht.

      Die Niagaras!

      In breitem Strom rauscht es den Fels hinunter, um dann, kaum dass es dessen Grenze zur Ebene erreicht, augenblicklich, wie aufgesogen von einem Schwamm, im Nichts zu verrinnen.

      Dieser erste Augenblick, da das Licht aus dem eben noch finsteren Felsen hervorschießt, gleicht einer Offenbarung. Die dicht gedrängten Menschen schrien hinter den Helmen ihre Ohs und Ahs, als es vor ihren Augen so wogte und glühte. Die Vernunft war angesichts dieses Anblicks betäubt, obwohl die Wissenschaft das Phänomen natürlich längst erklärt und tausende von Malen bis ins Detail beschrieben hatte. Tagsüber saugte sich der aus reinem Bagronit bestehende Fels mit den Photonen der Sonne voll, speicherte sie sozusagen in seinen mikroskopischen Poren, bis die kristalline Struktur damit zum Bersten gefüllt war. Kaum war die Sonne dann hinter den Horizont abgetaucht, so dass der von außen einwirkende Druck der Photonen geringer war als der innere des gespeicherten Lichts, brach das Letztere auf einmal mit entfesseltem Ungestüm aus dem Felsen hervor.

      Im Grunde war das also ein ganz natürlicher Vorgang – den die Genies in Marsopolis längst in exakten Formeln beschrieben hatten. Doch die Masse ist nun einmal von der Wissenschaft schwer erreichbar. Wer dieses Spektakel zum ersten Mal miterlebte, der war felsenfest überzeugt, einem unglaublichen Wunder beizuwohnen. Als hinlänglich gebildeter Mann wusste Ego zudem, dass auf Gaia weder Bagronit existiert noch solche phosphoreszierenden, abwechselnd grün- und bläulich schimmernden Lichtkaskaden. Das Phänomen scheint einzigartig im ganzen bekannten All zu sein.

      Ella hatte den Geliebten an die Hand genommen und drückte ihn an sich, weil die Geburt des Himmlischen Lichts, wie man in Marsopolis sagt, als glückverheißendes Omen gilt, das allen Zwist beseitigt und angeblich jeden Wunsch zur Erfüllung bringt. Auch Ego sprach insgeheim einen Wunsch aus, natürlich denselben, den er jedes Jahr aufs neue flüsterte, aber so leise, dass ihn niemand hörte: Ach, wäre ich doch eine Frau!

      Während das Licht in blau-grünen Schlangenleibern die Felswand hinabzüngelte, spannten Helferinnen eine etwa zehn Meter hohe Leinwand auf, vor der die Erste Holde in diesem Augenblick auf das Podium trat. Scheinwerfer richteten sich auf ihre Gestalt, ihr Gesicht war unter dem Helm zwar nicht zu erkennen, aber ihr Abbild in Überlebensgröße auf die Leinwand projiziert. Das ergab einen überraschenden Effekt. Es sah gerade so aus, als würde sie in einem grünen Wasserfall baden. Die „Holde im Himmlischen Licht“ nennt man auf dem Mars diesen einzigartigen Augenblick.

      Ihr leises Atmen war durch die Lautsprecher deutlich zu hören. Ego spürte es wie menschliche Wärme, die durch den luftleeren Raum zu ihnen drang. Welche Botschaft würde die Erste Holde ihrem Volk heute verkünden?

      Die Rede der Ersten Holden

      Meine lieben Mitfrauen auf dem Planeten des Glücks, rief sie der ehrfürchtig lauschenden Mange von der Tribüne zu. Zum fünfundzwanzigsten Mal jährt sich heute der Tag unserer Freiheit, der Tag, als die Weltordnung einen weiblichen Namen erhielt. Die Machos wurden vertrieben, nachdem sie uns auf einem anderen Planeten, auf Gaia, zehntausend Jahre lang unterdrückten. Warum hat die ganze bisherige Geschichte des Menschen nie zu diesem Abschluss und Höhepunkt gefunden? Warum herrschte auf Gaia in einem fort Krieg? Warum gab es dort keine Orgien der freien und glücklichen Nächstenliebe? Euch, meine Lieben, brauche ich es nicht mehr zu sagen. Ihr kennt den Grund des uralten Unglücks, weil ihr es überwunden habt. Ausbeutung, Egoismus, Totschlag und Mord hat es nur deshalb gegeben, weil das missratene Geschlecht überall an der Macht war: der Mann, ein Ausrutscher der Evolution, eine genetische Fehlkonstruktion, ein furchtbarer Irrtum der Natur.

      Doch jetzt, liebe Frauen, habt ihr das Schicksal in die eigene Hand genommen. Jetzt lebt der Mensch zum ersten Mal gemäß seiner göttlichen Bestimmung. Wir haben die vollkommen glückliche Gesellschaft geschaffen.

      Die Erste Holde hielt in ihrer Rede für einen Augenblick inne.

      Das ist keine leere Behauptung, keine bloße Selbstbeweihräucherung, wie uns die ihrer Macht beraubten Männer nach ihrer Verbannung entgegenhielten. Egoismus, Lüge, Herrschaft oder gar Mord und Totschlag haben wir auf dem Mars ausgerottet, seit wir die Männer in den Bauch der Erde verbannten. Nur Frieden und selige Eintracht herrschen in unserer Mitte. In unserer Güte sind wir sogar milde gegen unsere einstigen Peiniger. Statt sie vom Mars zu vertreiben, haben wir sie nur in die Unterwelt unter die Erde verbannt. Zum Wohle der Stadt dürfen sie ihre Muskeln einsetzen, denn im Hinblick auf rohe Kraft sind sie uns zweifellos überlegen.

      Ein leises Lachen und vielfältiges Glucksen war aus dem Publikum zu hören.

      Nein, vollständig abgeschafft haben wir sie nicht, obwohl das eine verdiente Strafe für ihre vielen Verbrechen wäre. Wie ihr wisst, dulden wir ein paar Männchen in unserer Mitte. Einige von ihnen weilen sicher auch jetzt in unserer Mitte.

      Aus der Menge war vereinzeltes Händeklatschen zu hören, dem sich Ego bereitwillig anschloss, denn mit dieser Bemerkung wurde die Minderheit ausdrücklich geehrt. Er war gerührt über die Großmut dieser ausdrücklichen Erwähnung.

      Uns Frauen ist Grausamkeit fremd. Es genügt uns, die Männer in gehöriger Distanz zu halten und ihnen die Arbeiten zuzuweisen, die sie aufgrund ihrer bescheidenen Intelligenz zu unserer Zufriedenheit auszuüben vermögen.

      Meine lieben Schwestern und teuren Mitkämpferinnen, auch was die Liebe betrifft, sind wir auf Männer längst nicht mehr angewiesen. “Liebe deinen Nächsten so wie dich selbst”, heißt es im Stammbuch des Patriarchats. Das können und wollen wir nicht, damit ist es für alle Zeiten vorbei. Wir haben daraus die wahre Botschaft des Matriarchats gemacht: “Liebe deine Nächste so wie dich selbst!”

      Jede von euch ist die Nächste für jede andere. Keine braucht in furchtsamer Keuschheit zu leben. Keine unterdrückt die ihr von Eana geschenkten Triebe. Es steht uns frei, uns jederzeit an jedem Ort gegenseitig zu lieben. Unsere Nächstenliebe kennt weder eifersüchtigen Besitz noch irgendwelche trennenden Grenzen.

      Den letzten Satz