Gerhard Wolff

Die Sümpfe


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      „Ein Schwächling, sage ich!“, schrie ihn der Vater an. „Immer krank war er und immer nur am Jammern!“

      „Aber unsere Familie war geachtet. Großvater wusste sich zu benehmen. Du hast mit deinem Benehmen den Ruf unserer Familie im Dorf komplett ruiniert!“

      „Halt dein freches Maul, du ungezogener Bengel!“ Er stand auf, um Tom zu drohen, denn er wusste, dass er ihn nicht mehr schlagen konnte, so wie früher, als er noch ein Junge war. Aber er sackte eh vor Schwäche wieder in sich zusammen.

      „Und du bist schuld, dass Mutter sich das Leben nahm!“, bohrte Tom weiter, weniger um den Vater zu provozieren, als aus aufkeimendem Zorn.

      „Halt jetzt dein ungezogenes Maul!“, lallte der Vater wieder. „Was fällt dir ein? Ich, ich …!“ Aber weiter kam er wieder nicht, dann rutschte sein Kopf von seiner Faust, mit der er diesen abgestützt hatte, herunter und knallte auf den Tisch. Ein leiser Laut des Schmerzes, dann stützte er sich wieder ab, zog sich am Tisch hoch und stand auf.

      „Deine Sauferei ist schuld, dass Mutter sich erhängt hat!“

      Er hatte sie in der Scheune gefunden, als er im Teenageralter war. Er wusste, dass er diesen Anblick nie vergessen würde. Und er wusste, wer an allem schuld war. Zorn durchfuhr ihn gegen diesen dumpfen, rücksichtlosen Egoisten.

      „Oh!“, brummte der Alte nur, taumelte zum Treppengeländer, an dem er sich schnell festhielt, um nicht hinzufallen. Er beachtete Tom gar nicht und zog sich nach oben.

      „Du Schwein!“, rief ihm Tom angeekelt hinter her. „Du versoffenes Schwein!“

      Der Alte reagierte nur mit einer abfälligen Handbewegung.

      Eine wohlbekannte Ohnmacht überfiel Tom, die Ohnmacht, im Recht zu sein, alles richtig machen zu wollen, das Richtige tun und leben zu wollen und nicht zu können, weil dieses versoffene Schwein im Weg stand und es verhinderte.

      An der Kehre blickte ihn der Vater an und grinste frech, so als ob er sagen wollte: „Schau! Was du auch willst, es wird doch nicht gemacht!“

      In Tom brodelte es, diese Frechheit, Dummheit und Sturheit dort und diese Ohnmacht bei ihm.

      „Verflucht!“, entfuhr es ihm. „Ich könnte dich …!“

      Tom stürzte zornig nach draußen in den Hof, damit er nicht aus lauter Wut eine Dummheit beging. Von dem Streit völlig außer Atem blieb er stehen und holte tief Luft. „Weg hier, nur weg hier, sonst bring ich den Kerl um!“, murmelte er.

      Er lief hinüber zu dem Schuppen, in dem seine Geländemaschine stand. Er schob sie aus der Halle, trat energisch das Pedal durch, ließ den Motor aufheulen und brauste dann davon.

      6

      „Wie bitte, du willst nach Deutschland auswandern?“, rief Adrian laut, sprang auf und sah Sofia entgeistert an. „Das, das kannst du doch nicht machen, du kannst mich doch nicht allein lassen!“

      Sofia senkte traurig ihren Kopf und starrte zu Boden. Im nächsten Moment flossen ihr die Tränen über das Gesicht.

      Sie hatten einen schönen Abend in ihrem Zimmer geplant und saßen auf dem Sofa.

      „Ich, ich dachte du liebst mich?“, fragte er verzweifelt. „Ich dachte, wir wollen heiraten. Ich dachte, wir zwei würden für immer zusammenbleiben. Ich wollte Kinder von dir, ich wollte eine Familie mit dir gründen!“ Er stand ratlos vor ihr.

      Auf dem Boden hatte sich bereits ein kleiner See aus Sofias Tränen gebildet. Sie schluchzte, rang nach Fassung, atmete tief durch, spürte einen tiefen Schmerz in ihrem Herzen, wusste, dass sie ihn überwinden musste. „Das ist doch alles noch möglich, Adrian!“, begann sie mit leiser, aber hoffnungsvoller Stimme. „Ich habe doch nicht gesagt, dass ich dich verlasse. Ich habe doch nicht gesagt, dass es aus ist zwischen uns beiden. Ich liebe dich, darauf kannst du dich verlassen!“ Nun sah sie zu ihm hoch, stand auf und sah ihm tief in die Augen. „Ich liebe dich, glaub mir bitte, ich liebe dich und ich wünsche mir auch alles das, wovon du gesprochen hast, eine Familie und Kinder und das nur mit dir.“

      „Na also!“, meinte er etwas beruhigter. „Dann wird alles so geschehen und alles gut werden, wenn du hier bleibst. Du bleibst doch hier?“

      Von einem zum nächsten Moment war ihr Herz wieder voller Trauer. Sie begriff, dass er sie nicht verstand und dass sie es ihm doch beibringen musste. „Nein!“, flüsterte sie leise und legte zärtlich die Arme um ihn. „Ich bleibe nicht hier. Ich werde nach Deutschland gehen, weil es nur dort Arbeit in meinem Beruf für mich gibt und weil ich dort gut verdiene!“

      Es wurde ihm klar, dass sie es ernst meinte. Er stieß sie verärgert zurück, wandte sich von ihr ab. „Ach, Unsinn! Du findest auch hier Arbeit, wenn du nur lange genug suchst!“

      „Ich habe lange genug gesucht, Adrian, das weißt du.“ Sie holte Luft, um weitersprechen zu können. „Ich habe vor drei Jahren meine Lehre beendet und seitdem suche ich nach Arbeit, das weißt du genau!“

      „Dann suchst du eben noch drei Jahre, aber du wirst Arbeit finden, das schwöre ich dir!“ Er sah sie mit blitzenden Augen an.

      „Falls wir nicht vorher verhungern, nachdem wir schon nicht gelebt, sondern grade so existiert haben. Nein, nein, nein! Es geht mir und meiner Familie wirklich schlecht. Es muss etwas geschehen.“ Sie nickte, weil sie ihre Entscheidung getroffen hatte. „Ich werde gehen, das ist sicher!“

      „Wenn du gehst, wird es aus sein zwischen uns!“, vermutete er. „Du wirst dort arbeiten, du wirst jemanden kennenlernen, du wirst dich dort verlieben und nie wieder zurückkommen!“

      „Dann komm doch einfach mit!“, schlug sie ihm vor. „In der Annonce werden auch Männer für die verschiedensten Arbeiten gesucht. Die brauchen dort junge Leute, die arbeiten wollen, weil sie selbst nur noch alte Leute haben!“, rief sie begeistert über ihre Idee aus.

      Er winkte ab. „Ach, ich glaube nicht an diese Träume. Lieber habe ich hier meine Arbeit und meine Familie und meine Freunde sicher, auch wenn ich nicht so viel Geld habe, als dass ich mich auf etwas einlasse, dass vielleicht in einer Katastrophe endet. Nein, nein, nein, ich gehe nirgendwohin und du, du bleibst ebenfalls hier!“ Er stellte sich bestimmend vor sie hin. „Du bleibst hier, damit das klar ist!“

      Sie sah ihn eine Weile nachdenklich an. „Ich habe die Papiere mit dem Vermittler bereits unterzeichnet. Der Vertrag ist gültig. Ich werde am ersten des neuen Monats in Deutschland mit der Arbeit beginnen!“

      Er fuhr überrascht zurück und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Dann, leb wohl!“, zischte er außer sich vor Zorn und stürzte aus ihrem Zimmer.

      7

      Tom raste mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch die Straßen der Stadt. Das war ein sicheres Zeichen dafür, dass er sich geärgert hatte.

      „Wollen wir heute Abend etwas unternehmen?“, hatte er Anne, seine Freundin, per SMS gefragt.

      Aber die hatte abgesagt. „Habe heute Abend leider keine Zeit. Muss noch für die Prüfung arbeiten!“

      Er hatte dann versucht, mit ihr auf dem Handy zu sprechen, da er sich damit nicht abfinden wollte. Aber sie war nicht erreichbar gewesen.

      „Verdammt noch mal, was soll das?“, hatte er wütend gemurmelt. Denn in letzter Zeit hatte sie kaum noch etwas mit ihm unternommen. Immer hatte sie eine Ausrede gehabt und oft war sie nicht erreichbar gewesen.

      Da schwang er sich auf seine Bultaco und war in die Stadt gerast, ohne richtig zu wissen, was er da wollte. Er hasste die Stadt mit den vielen Menschen, die er zunehmend als Feinde betrachtete. Eigentlich war die Stadt gar nicht sein Ziel gewesen, aber irgendwann endet jede Landstraße in einer Stadt.

      Er brauste durch die Straßen, um seine Wut loszuwerden, aber er steigerte sich nur noch mehr hinein, so wie es seine Art war. Er versuchte sich an die Entspannungstechniken aus dem Taekwondo-Training zu erinnern, aber