es sich bei Ihrer Entdeckung um einen ähnlichen Mechanismus wie beim sogenannten Dream-Gen, das kanadische Forscher unlängst bei Mäusen gefunden haben?“
„Mit dem entscheidenden Unterschied, dass dabei lediglich ein Gen entfernt wurde, wodurch es zu erhöhter Dynorphin-Produktion kam. Dynorphin ist ein vom Körper erzeugtes Opioid, vergleichbar dem Opium. Es wurde also nicht der eigentliche Schmerz ein- oder abgeschaltet, sondern lediglich ein Betäubungsmittel aktiviert.“
„Nehmen Sie mit Ihrer Entdeckung den Schmerzmittelproduzenten nicht die Geschäftsbasis?“
„In gewissem Sinne, ja. Wahrscheinlich wird die Pharmaindustrie demnächst einen Killer auf mich ansetzen, wenn ihre Geschäfte in den Keller gehen …“
„Bedeuten Ihre Forschungen, Professor Hollando, wir Menschen werden demnächst ein völlig schmerzfreies Leben führen?“
„Oh, nein …“, wehrte Hollando lächelnd ab. „Ganz ohne Schmerzen dürften wir auch in Zukunft nicht auskommen. Stellen Sie sich nur mal vor, was passiert, wenn sich Ihre volle Blase nicht mehr meldet?“
Lacher im Saal …
„Negative Gefühle werden für eine Vielzahl von Lebensvorgängen benötigt, wie Flucht und Kampf oder als Hinweis auf Erkrankungen. Und ohne Trauer würden wir uns beim Tod naher Verwandter auch nicht ganz intakt fühlen, oder?
Da halten wir es doch lieber mit der alten östlichen Weisheit: Selbst Buddha hatte Schmerzen …“
Nach Hollandos Vorlesung kehrte Carolin ohne Umweg zum Flughafen zurück.
Für die eigentliche Preisverleihung durch den schwedischen König würde es wegen des begrenzten Platzes im Konserthuset kaum freie Karten geben. Die meisten Plätze waren für ehemalige Preisträger und die Mitglieder des Nobelpreis-Komitees reserviert.
Als sie in Düsseldorf landete, stand ihr Bruder am Ausgang neben der Zolltheke und winkte ihr mit einer Zeitung zu.
Robert war überzeugter Junggeselle und gerade zum Hauptkommissar befördert worden – zur Überraschung seiner Kollegen, die geglaubt hatten es werde Paul Broder, für den es dann nur zum Stellvertreter reichte.
Nach dem Tod ihrer Eltern liebte Robert es immer noch, sich an den gedeckten Tisch zu setzen. Vielleicht war Carolin ja jetzt so etwas wie ein Mutterersatz für ihn …
So jung und schlaksig – mageres Gesicht und schelmische Augen – war es schwer, sich Robert als Kommissar vorzustellen. Aber der harmlose Schein trog. Eigentlich sah er ein wenig schwindsüchtig aus. Vielleicht, weil er zu viele Jahre in dunklen Büros verbracht hatte.
Draußen schien es, als wenn der Himmel auf die Landebahnen stürzte. Laternenmasten wackelten im Wind und von den fernen Hügeln Richtung Rhein breitete sich eine dunkle Wolkendecke aus.
„Lass uns erst mal ins Flughafen-Café gehen“, schlug Robert vor. „Bei dem Wetter bleiben wir noch im Stau stecken.“
Er bestellte wie immer nur einen Espresso.
„Sieh dir das mal an“, sagte er und reichte ihr die Zeitung. „Etwas Seltsames geht momentan in der Stadt vor. Es werden immer mehr Frauen aufgegriffen, die ihr Gedächtnis verloren haben …“
Carolin erinnerte sich, dass Robert vor ihrem Abflug eine junge Frau erwähnt hatte, die nur mit einem blauen Unterrock und dünner Bluse bekleidet am Flussufer unterhalb der Universität aufgegriffen worden war – bei Frost, während auf dem Wasser Eisschollen trieben. Ein Polizeibeamter hatte sie beim morgendlichen Lauftraining entdeckt.
„Schon der dritte Fall, seit du nach Stockholm geflogen bist“, sagte Robert. “Und jetzt auch noch ein vierter. Grauenhaft, diese Sache mit dem Auge …“
Die erste Frau war etwa zwanzig Jahre alt. Als Carolin ihr Bild in der Zeitung sah, erstarrte sie. Es war Manuela, eine Kommilitonin …
Sie studierte Theaterwissenschaften und Medizin – anscheinend, ohne sich für ein Fach entscheiden zu können.
Einmal hatte Manuela sich von Carolin ein paar Euro geliehen, um in der Cafeteria bezahlen zu können. Angeblich, weil ihr Portemonnaie im Handschuhfach des Wagens lag. Carolin erinnerte sich nicht, das Geld jemals zurückbekommen zu haben.
Auf dem Foto sah Manuela stark abgemagert aus. Doch das eigentlich Verstörende war die Schlagzeile:
JUNGE FRAU OHNE GEDÄCHTNIS AN
FLUSSUFER AUFGEFUNDEN
Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wo sie wohnte und wie sie hieß.
Amnesie, das wusste Carolin aus dem Studium, konnte durch einen Unfall, zum Beispiel ein Hirn-Schädel-Trauma, aber auch durch Schlaganfall oder verschiedene andere Krankheiten ausgelöst werden. Manchmal blieben die Ursachen auch völlig unbekannt.
Das ist Manuela Winter – nein, Winters“, berichtigte sie. Sie hat dasselbe Seminar belegt wie ich.“
„Dann solltest du unbedingt deine Angaben zu Protokoll geben. Bisher tappen wir nämlich noch völlig im Dunkeln. Von Seiten ihrer Universität – kann sein, aus dem Universitätssekretariat – gibt es einen Hinweis, sie könnte sich momentan irgendwo in den USA aufhalten“
„Heißt das, man hat dir den Fall übertragen, Robert? Gratuliere …“
„Nicht mir allein, ein ganzer Stab arbeitet daran. Also bitte keine Vorschusslorbeeren.“
„Na, wenn das kein Karrieresprung ist …“
„Die Presse läuft Sturm wegen der rätselhaften Vorfälle. Unsere Telefone klingeln Tag und Nacht.“
„Dann zieh einfach den Stecker aus der Wand …“
„Leichter gesagt als getan. Es gibt da ein paar Politiker, die uns genau auf die Finger schauen, schon wegen des Echos in den Medien. Diese Frauen haben nicht nur ihr Gedächtnis verloren. Der Körper der einen ist voller blauer Flecke. Eine andere war bei der Vernehmung kahlköpfig und am ganzen Körper rasiert.“
„Rasiert, wozu?“
„Keine Ahnung. Eine andere macht dauernd obszöne Bemerkungen.“
„Vielleicht, weil sie etwas Schreckliches erlebt hat?“
„Eine Vergewaltigung?“
„Oder so was Ähnliches.“
„Dafür haben wir bisher keinerlei Hinweise gefunden. Wenn man die Frauen anspricht, hat man den Eindruck, sie verstehen einen gar nicht. Es dauert immer eine Zeitlang, bis man eine halbwegs plausible Antwort bekommt.“
„Aber dann reden sie wieder normal?“
„Nein.