ist mit der vierten Frau? Sieht aus, als wenn ihr … ein Auge fehlt?“
Carolin hob die Zeitung ins Licht, um besser sehen zu können. Oder lag es nur am schlechten Druck? Nein, es war kein Fehler. Es war eindeutig eine leere Augenhöhle.
„Robert …?“
Keine Antwort.
„Gibt es etwas, über das du nicht mit mir reden willst?“
„Ihr fehlt ein Auge, ja …“
„Was bedeutet das?“
„Ich glaube nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, darüber zu reden – so kurz nach deiner Rückkehr.“
„Heißt das, du willst mich schonen? Schon mal was von Resilienz gehört?“
„Mentale Abhärtung … oder so ähnlich.“
„Resilienz ist in unserem Fach besonders wichtig, weil ständig ziemlich üble Dinge auf uns zukommen. Einige brechen deswegen sogar ihr Studium ab. Und ein geöffnetes Gehirn, wenn wir im Limbischen System mit dem Skalpell Teile des Cerebrums oder des Fornix cerebri freilegen, ist auch nicht gerade appetitlich.“
Robert nickte nur unmerklich und schwieg.
„Irgendwas nicht in Ordnung?“
„Ihr rechtes Auge hängt an einer Angelschnur – Miniaturhaken Größe 24, so die Bezeichnung im Katalog für Zubehör – über einem Kirchenaltar.“
„Ihr Auge hängt … wo?“, fragte sie.
Ihr Bruder gab keine Antwort.
„Robert …?
„Spielt es denn eine Rolle, wo?“
„Ja, wieso nicht …“
„Es hängt über dem Kruzifix am Altar St. Maria Magdalena, das ist eine Kirche hier in der Nähe. Das Auge darf erst nach der Spurensicherung abgenommen werden. Die Sicherung von genetischem Material erfordert immer besondere Vorkehrungen, deshalb ist der Zutritt bis auf Weiteres gesperrt.“
„Aber wer hängt denn ein Auge über einen Kirchenaltar – und wozu?“
„Keine Ahnung.“
„Hört sich das nicht nach durchgeknalltem Psychopathen an?“
„Wir haben noch nicht den geringsten Hinweis, was dahintersteckt.“
Als sie das Café verließen, winkte Robert einem vorüberfahrenden Wagen zu …
Carolin konnte nicht erkennen, wer am Steuer saß – vielleicht eine seiner zahllosen Freundinnen. Ihr Bruder war trotz seines schwächlichen Aussehens eine Art Frauenheld. Was denn auch sonst bei einem Kerl, der jede Nacht mit einer großkalibrigen Waffe ins Bett ging?
Auf dem Parkplatz öffnete er das Handschuhfach und nahm ein Farbfoto heraus.
„Sind deine Nerven stark genug, dir das hier anzusehen?“
„Was?“, fragte sie argwöhnisch.
„Na, das Auge …“
Sie musste sich übergeben, als sie das Foto sah. Es kam so plötzlich und war ein so starker Reflex, dass sie nur noch die Wagentür aufstoßen konnte und sich auf den Parkplatz erbrach. Robert reichte ihr ein Taschentuch …
Aber da stolperte sie auch schon mit weichen Knien auf ein Gesträuch nahe der Landebahn zu. Sie streckte tastend ihre Arme aus, als sei sie plötzlich erblindet …
Der Sturm hatte nachgelassen, doch die röhrenförmigen Windanzeiger aus rot-weißen Stoffhüllen flatterten immer noch waagerecht in der Luft. Hinter dem Drahtzaun weit draußen landete mit wiegenden Tragflächen ein Langstreckenflieger.
Großer Gott! – das Bild mit dem am Perlonfaden hängenden Auge war sofort wieder da, als sie die Augen schloss …
Aus der Pupille bog sich die winzige Spitze eines Angelhakens bis in den weißen Augapfel hinein, ohne irgendeine Blutspur zu hinterlassen, chirurgisch sauber durchtrennt. Und dahinter – unscharf wegen der Einstellung des Objektivs und wie malerisch arrangiert – war schemenhaft das Bildnis des Gekreuzigten zu erkennen.
Sie kannte die Kirche von früher, weil dort ein historischer Pilgerweg verlief und sie oft mit ihren Eltern hier gewesen war. Das Kreuz im Chorraum von St. Maria Magdalena war um 1300 in den Pyrenäen entstanden.
Robert stieg aus und legte den Arm um ihre Schultern.
„Geht’s wieder …?“, fragte er.
„Professor Hollando gründet einen Arbeitskreis ausgewählter Studenten“, sagte Carolin während der Rückfahrt. Sie war froh, das Thema wechseln zu können. „In den muss ich unbedingt aufgenommen werden.“
„Deshalb bist du zur Preisverleihung nach Stockholm geflogen?“, fragte Robert. „Um ihn darauf anzusprechen?“
Sie hatte kaum Zeit, zu antworten …
Er beschleunigte so stark, dass sie den Rahmen der Rückenlehne im Schaumstoff spürte. Ihr Bruder liebte schnelles Fahren. Der Antrieb seines Zweisitzers war mit 12-Zylindern und 800 PS kein normaler Motor, sondern eher ein Raketentriebwerk.
Dann kam eine enge Kurve und sie holte tief Luft …
„Nein, man hat mir schon vor Abflug einen Vorstellungstermin gegeben. Ich wollte einfach dabei sein und sehen, wie Hollando auf mich wirkt.“
„Und – wie wirkt er auf dich?“
Sie gab keine Antwort.
„Carolin …?“
„Geht dich das was an?“
„Na, ich will doch, dass meine kleine Schwester glücklich wird.“
„Beeindruckend, mehr oder weniger.“
„Du willst einen Nobelpreisträger, hab ich recht?“
„Und du wirst bald Polizeipräsident.“
„Ausgezeichnete Idee …“ Robert lachte. „Glaubst du denn, dass dein Charme ausreicht, ihn um den Finger zu wickeln?“
„Hollando ist ziemlich schwierig, ein harter Brocken. Intellektuell und in jeder Hinsicht. Keine Ahnung, ob er mich akzeptiert.“
„Akzeptiert als Studentin? Oder als Frau?“
„Kommt drauf an.“
„Du bist gerade dabei, das herauszufinden?“
„Ich habe noch keinen Menschen kennengelernt, der ihm intellektuell das Wasser reichen könnte, Robert. Mit so einem Mann ins Bett zu gehen, ist noch mal eine völlig andere Sache. Darüber denke ich erst gar nicht nach. Ich muss höllisch aufpassen, dass ich bei meinem Vorstellungsgespräch kein dummes Zeug rede.“
„War der Kerl nicht ursprünglich Dominikaner? Und ist erst neuerdings zu den Zisterziensern übergelaufen?“
„Er