Klaus Werner Hennig

Romeo und Julia in Jerusalem


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alten Herrn, denn draußen, zweihundert Meter entfernt, hat auf richterliche Anordnung ein Polizeikordon den Hochzeitssaal und die Gegend abgesperrt. Eine aufgebrachte Menge schrie laut von Rassenschande, hielt Transparente hoch und drohte mit Straßenkampf. Unter den Demonstranten war Ephraim, der Onkel der Braut. Er hat dem Schlamassel nicht nur zugeschaut, er hat unverhüllt am lautesten gebrüllt: Tod den Arabern!

      Aber es gab auch Gegendemonstranten, junge Leute mit Blumen in den Händen, die dem Brautpaar alles Gute wünschten und friedlich Lieder sangen.

      Maral und Mahmoud leben heute mit sieben Kindern glücklich und zufrieden. Sie lesen im Tanach und im Koran, folgen der Belehrung des Talmud und achten die Bräuche der Sunna. Kein Thema bei ihnen für Zank, Streit und Missgunst.

      Und leben sie noch in Israel, dann ward es wirklich zum gelobten Land.

      Selfie

      Fit für den Markt, seit Kindesbeinen läuft es darauf hinaus, sich selbst ins rechte Licht rücken, Gesicht zeigen. Ohne Scheu, frank und frei immer dabei, wo die Action ist. Keine verkniffenen Mienen, nicht in Melancholie versinken, zumindest niemals zeigen, wenn du mal unten bist.

      Ich! gehöre dazu. Ich! mache mit. Ich! bin völlig ungebunden. Ich! will und werde wie ihr ein Selfie durch und durch sein. Ich brauche niemanden in der Welt, stütze mich durch mich selbst, vertraue nur mir allein, bin unabhängig und frei. Und somit, darauf könnt ihr euch verlassen, im Großen und Ganzen, für alles voll einsetzbar. Ich halte aus, ich halte durch, ich habe Empfehlungen zuhauf. Für das gehobene Management bin ich – und einzig nur ich – prädestiniert. Als Überflieger, Quereinsteiger, Senkrechtstarter gehe ich Risiken, unkalkuliert, niemals ein. Ich beherrsche die Spieltheorie, habe auf dem Gebiet promoviert, spiele Klavier, übernehme die Lösung jeglichen Problems. Vom Start weg, sekundenschnell von Null auf Hundertzehn. Ich schneide nicht auf, das habe ich nicht nötig. Und wenn es sein muss, dann bin ich unbequem, beinhart, stecke auch mal ein, aber gleich drauf gibt ´s Schmackes zurück, Stück um Stück teile ich aus. Ich weiß, nur einer kann gewinnen, nur einer der Sieger sein und das bin ich. Verzweifelt nicht. Mit mir steht ihr stets im Rampenlicht. Wo ich bin, ist vorne. Ich stelle mich niemals hinten an, ich kenne keinen Vordermann. Ich, icher, am ichesten!

      Viele möchten wissen, wie ich das mache. Aber das verrate ich nicht. Da muss jeder selbst darauf kommen, sich seinen Weg selber bahnen. Der einzelne Wolf ist stark, im Rudel wird mir viel zu viel gejault. Ihr braucht mich nicht so bittend anzuschauen, ich verrate nicht mehr. Habt doch Vertrauen, ihr werdet schon sehen. Deutschland braucht Selfies in Hülle und Fülle, um in der globalen Welt zu bestehen. So wie die Amis und die Asiaten, diese gerissenen durch und durch rabiaten, weltgewandt, hochbrisant, bis ins Mark und Bein gewitzt, aus deren Holz bin ich geschnitzt.

      Zur psychosomatischen Entkrampfung vom Stress, kann ich empfehlen, ist neuerdings Solo-Wedding angesagt. Dienstleistung Liebe, darüber hat sich noch keiner beklagt. Flirt-Dating ist abgehakt. Ohne Körperkontakt, keine Berührung nackter Haut, sie entführen dich für mehrere Stunden in die Illusion, du seist Bräutigam einer Braut mit sich anschließendem Thermalbad inklusive Entspannungsmassage für 999 Euro Stundengage. Solche Unternehmen prosperieren am Markt. Mit dem transatlantischen Freihandelsabkommen werden sie steuerlich gefördert, durch Börsengang sind sie immens erstarkt. Machen wir uns selbst nichts vor, wir wollen virtuos ein Solo singen und nicht vor uns hin blöken im gemischten Chor. Sei solitär, dann bist du wer! Die Zeiten sind doch längst vorbei, sich mühselig in Kollektive einzubringen. Der Mief im Kollektiv würde uns heute umbringen. Selfie ist trendy, das ist der neue Wachstumsmarkt.

      Ich bin gut gelaunt, verrate entgegen meinem Prinzip, aber nur euch und bitte, sagt es niemals weiter, wie das heutzutage läuft, wo einer dem andern ein Bein stellt, jeder jeden gerne schmäht.

      Do it your self. Selfpublishing. Selfie sein. Fangt endlich an, noch ist es nicht zu spät.

      Im Sarge liegt ihr ohnehin allein.

      Thema mit Variationen

       Opus 1

       Andante ma non troppo

      Frau Magdalena Müller-Müncheberg, eine Frau in den besten Jahren, Mitte vierzig, geschieden, gewissermaßen alleinstehend, ohne Anhang, denn ihre Kinder sind aus dem Haus, möchte wieder teilhaben am Leben, sich nicht verschließen, im Alleinsein verkümmern. Sie ist kein Single aus Passion, hat vielseitige Interessen, immer schon, schaut sich gern um in der Welt, ist offen für neue Ideen, sucht Kontakte, bleibt nicht stehen, möchte sich mitnichten verplempern, weder auf- noch zudringlich sein. Sie würde sich sogar einer Frau anschließen wollen, wenn die feinfühlig um sie werben würde, aber ein Mann wäre ihr lieber, da hat sie Erfahrung, wenn auch nicht die besten. Am Ende ihrer Ehe ging es hoch her, es war nicht mehr auszuhalten mit ihm. Ritualer Sex, praktiziert wie Hochleistungssport, minutiös strapaziös, ödete sie an. Es langte ihr.

      Einmal kam sie früher als sonst von der Arbeit. Da arbeitete sich ihr Mann an einer Schnepfe ab, die in ihrem Sessel splitterfasernackt entkleidet fleischelte und meischelte. Da nahm sie seelenruhig das Handy aus der Manteltasche und filmte den Spaß. Danach flogen die Fetzen, dass es nur so krachte. Sie will sich nicht beklagen. Wer wäre so vermessen, sich selbst für fehlerfrei zu halten? Aber so manches würde sie, ob letztlich besser, weiß sie nicht zu sagen, aber doch anders machen wollen. Allzu vertrauensselig wäre sie nicht wieder. Allerdings, eine Beziehung ohne Vertrauen zueinander, wäre die überhaupt wünschenswert? Sie kann warten, schauen, wie alles kommt. Allzulange aber nicht mehr, Mitte vierzig ist sie schon. Trotzdem, sich bloß keinen Zwang anlegen. Jeder hat eine zweite Chance verdient, das sagt sie sich immer wieder. Keinesfalls Hals über Kopf auf den ersten Blick, und schon gar nicht wegen ab und an einem kleinen Schnack oder Schnick.

      Sie fährt nach Alt-Friedland ins Konzert, der Kulturförderverein der Klosterruine lädt jährlich im Hochsommer ein. Zwei Jahre wurde das Kreuzgewölbe des Refektoriums saniert, ein komplett neues Schutzdach montiert. Gespielt werden Johann Sebastian Bachs Aria mit dreißig Veränderungen, die sogenannten Goldbergvariationen. Das sind Klavierübungen fürs Clavicimbal mit zwei Manualen, den Liebhabern zur Gemüts-Ergötzung, von Gösta Funck auf seinem Cembalo zelebriert. Frau Müller-Müncheberg ist animiert vom Virtuosen, ein schlanker eleganter Mann mit leicht ergrauten Haaren, gepflegte Erscheinung. Aber die junge Frau, die mit ihm kam, sitzt ebenfalls im Publikum, ein glasklares K.o.-Kriterium, abgehakt. Der Nächste bitte.

      Der ehemalige Speiseraum der Klosterruine ist gut besucht. Neben ihr hat ein sympathischer Herr Platz genommen, vielleicht sogar ein Bit jünger als sie. Trotzdem, ihrem Kairos schwant, halt dich ran, altes Mädchen, bleib dran an ihm. Ansonsten kein Wild auf weiter Flur, das sie abschießen kann, hier im Gewölbe des Refektoriums.

       Opus 2

       Adagio con spiritoso

      Der Virtuose tritt vor sein Tasteninstrument, wird mit freundlichem Applaus vom Publikum begrüßt. Ihr Nachbar klatscht unziemlich laut und penetrant. Sie räuspert sich. Das stört ihn nicht. Er blickt unentwegt zum Virtuosen hin, als bete er ihn an.

      Der Meister spricht ein paar Worte zum Publikum, erklärt, was es heißt, auf zwei Manualen zu spielen. Sie überlegt, wie sie den Kontakt zu ihrem Nachbarn einfädeln kann. Lässt ihr Programmblatt fallen, ein uralter Trick, meistens mit dem Taschentuch oder Schlüsselbund angewandt, damit er sich vor ihr verbeugen kann. Sie hat heute extravagantes Schuhwerk an, nadelspitz und blitzeblank. Ein Blickfang, dem er sich kaum entziehen kann. Mühsam fingert er den Programmzettel unter der vorderen Sitzreihe hervor, überreicht ihn lächelnd mit vom Bücken gerötetem Kopf. Sie lächelt milde zurück, lispelt ein samtweiches Dankeschön. Aber ich bitte Sie, gnädige Frau, vielleicht können wir in der Pause einen Kaffee trinken gehen? Er lächelt sie schelmisch an. Sie frohlockt innerlich: Wow, geht der ran und trotzdem ein Gentleman! Kein ichbezogener Alleinunterhalter. Manieren scheint er allenfalls zu haben. Als ihr Vater verstorben war, hat Jahre später ihre Mutter gesagt: merk dir eins, mein Mädchen, zwei Junge sind besser als ein Alter. Pah, war sie da entsetzt über sie. Jetzt erst kann sie ihr