Klaus Werner Hennig

Romeo und Julia in Jerusalem


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Nachfrage riskieren.

      Der Virtuose lässt die Hände fingerfertig gleiten, spielt das erste Stück, die Aria G-Dur, mit viel Geschick, streichelt förmlich die Tastatur. Frau Müller-Müncheberg wird es warm ums Herz, obwohl das Kellergewölbe nicht beheizt werden kann, doch draußen ist es hochsommerlich heiß und schwül. Sie drückt sich bequem in das Gestühl, streckt die Beine aus, strebt sanfte Tuchfühlung zu ihrem Nachbarn an. Der spürt ihre Wärme an seinem Arm, das prickelt nicht unangenehm, die Frau hat Charme. Sie schlägt ihre Beine nun kühn übereinander, zupft sich am Rock, zieht den zum Knie. Das provoziert unbewusst jeden Mann. Jetzt oder nie, denkt sie. Er aber sagt sich: Sei bloß vorsichtig, geh das langsam an.

       Opus 3

       Largo grazioso

      Sie hat die Variationen nicht mitgezählt. Sie liebt Bach sehr, aber eine Expertin ist sie nicht, doch hat sie sich belesen. Könnte also durchaus über die gehörte Musik gescheit reden, so jemand mit ihr darüber spräche. Ob ihr Nachbar dazu in der Lage ist? Unsympathisch scheint der nicht, ich frage ihn nachher ganz spontan und teste, ob er mir geistig folgen kann oder ausweicht in Hilfsbereitschaft, so nach dem Motto, darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee vom Büfett servieren? Womöglich wieder sein albernes „gnädige Frau“ ausprobieren. Trotzdem würde sie nicht nein sagen wollen, sich aber nicht in allgemeines Gelaber verlieren, sondern über Bach und seine Söhne kenntnisreich parlieren. Ein bisschen Geist muss sein, sonst kriegt sie niemand jemals wieder in die Kiste, hat sie neulich erst zu ihrer Tochter gesagt. Die hatte sie explizit danach gefragt, ob sie denn grundsätzlich schmolle und nur noch allein leben wolle, was sie, gelinde gesagt, von ihrer Tochter ungehörig fand.

      Versunken in angenehme Träumerei studiert Frau Müller-Müncheberg mit Kennerblick die Backsteinstruktur des Kreuzgewölbes, sieht, welche Steine erneuert worden sind. Bestaunt die Stützen, die aus Kalkstein gehauen. Ein feste Burg ist unser Gott, warum fällt ihr das Lutherlied jetzt ein? Sie hört doch Bach! Mit der Reformation wurde das Nonnenkloster säkularisiert. Nach dem zweiten Weltkrieg sind sogar noch vorhandene Kemenaten der Nonnen in Wohnungen für Umsiedler umgestaltet worden.

      Frau Müller-Müncheberg lauscht der Musik, findet den Faden, der dritte Kanon ist verklungen. Es folgt die 10. Variation, die Fughetta. Die hört sie sich öfters frühmorgens beim Frühstücken an. Dann kaut sie genüsslich, schlürft den Kaffee, raucht ein Zigarettchen, verlässt danach, völlig entspannt, ihr Haus am See.

      Sie blickt seitlich zu ihrem Nachbarn hin. Und wenn die Welt voll Teufel wär, und wollt uns gar verschlingen. Der vermaledeite Luther lässt sie nicht los. Der junge Mann von nebenan scheint sich in die Tremolos, mit denen der Virtuose brilliert, zu flüchten. So fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen. Sie atmet tief, ist versucht, mit ihrem Odem an seine Ohrmuschel zu dringen. Der Fürst dieser Welt, wie sauer er sich stellt. Früher hat das immer funktioniert. Die Versuchung peinigt sie, lässt sie nicht los. Sie neigt den Kopf, faltet die Hände, als bete sie bloß. Konzentriert sich völlig auf diesen Hagestolz neben ihr, verspürt in ihrem Kopf dessen Gehirnaktivität. Er sicherlich ebenso umgekehrt, vermutet sie. Wie das Leben so spielt. Ein Wörtlein kann ihn fällen. Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her. Der Virtuose spielt gnadenlos. Hat denn mein Leben noch einen Sinn?, fragt sie sich atemlos. Der Nachbar schaut sie an. Da vergisst sie sich. Streckt ihm die Zunge ein wenig raus. Habe ich sie noch alle?, fragt sie sich selbst. Er zieht die Augenbrauen hoch. Am liebsten würde sie aufstehen, den Raum verlassen. Ihr Benehmen findet sie skandalös, das Gebaren eines Teenagers in Disco-Manier. Zwei mal zwei ist vier, hau ich ab oder bleib ich hier?

       Opus 4

       Moderato molto scherzando

      Pause. Sie steht auf, stürmt hinaus, rennt zu den Toiletten. Verbirgt sich ärgerlich. Stöhnt, ich hab das Ding vermasselt. Der junge Mann eilt hinterher, verliert sie aus dem Blick. Versteht das nicht, er war doch so dicht dran an ihr. Was hab ich jetzt wieder falsch gemacht? Mal ist er zu kühl, mal zu forsch, ein junger Hirsch, ein alter Dorsch. Er schleicht sich resigniert zum Büfett.

      Da sieht er sie, da ist sie ja. Es schreit in ihm hurra, hurra! Er schnappt eine zweite Tasse Kaffee und eilt an ihre Seite. Ich bin so frei. Ach, danke schön. Gerne verwöhne ich Sie. Sie schmeicheln mir. Nein, ehrlichen Herzens. Wenn ich Bach höre, erschließt sich mir die Welt. Mir geht es ebenso. Da bin ich aber froh und nicht das nur allein. Ja, diese Musik dringt in einen ein. Bis ins Innerste. Genau so bei mir. Ach, dass ich das noch erlebe. Wieso, Sie werden noch so viel erleben. Ja, Sie sind jung. Na hören Sie, da überschätzen Sie mich gewaltig.

      Sie schreiten zurück zum Refektorium, nehmen die Plätze wieder ein. Der Virtuose wirkt auch erfrischt, hat sein Hemd gewechselt, es strengt ihn mächtig an, obwohl alles so leicht dahingespielt wirkt. Frau Müller-Müncheberg rückt dichter an den Nachbarn heran. Der Knabe hat sich noch gar nicht vorgestellt. Vielleicht ist er ein Doktor der Philosophie. Auf alle Fälle steht für sie fest, der junge Mann ist irgendwie eine Art Genie. Das spürte sie sofort. Er hat so ein Flair. Er ist auf alle Fälle wer. Daran hat sie keinen Zweifel. Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel. Jetzt ist sie, du großer Gott, bei Goethes Faust. Könnte sie doch nur abschalten, sich hingeben ans einfache Leben. Es wäre so wichtig für sie, einmal unkontrolliert kreatürlich zu reagieren. Das ist doch schlechthin ein Menschenrecht.

       Opus 5

       Vivace con brio

      Das Konzert ist aus. Der Beifall furios. Der Meister steigt die Treppe hinauf, zieht sich zurück, taucht wieder auf. Bravorufe ertönen. Er erhält vom Veranstalter einen Feldblumenstrauß und ein Glas Bienenhonig überreicht. Ländlich, originell. Frau Müller-Müncheberg, mit ihrem Nachbarn vereint, jauchzt und hüpft. Er klatscht und brüllt. Atemlos wendet sie sich ihm zu. Er reicht ihr die Hand, geleitet sie durch das uralte Gemäuer der Klosterruine auf die Wiese hinaus. Sie weiß, jetzt geht’s um Sekunden. Jungens macht rasch. Sie stehen am Ufer des Sees ineinander versunken beim Sonnenuntergang. Ein Fischreiher stakst durch das seichte Wasser, schaut ihnen zu und wundert sich.

      Sie schwimmen danach im See, verweilen bis Mitternacht am Strand. Wirst du mich wiedersehen? Wenn du es willst. Atemlos, durch die Nacht. Das Leben ist wunderschön.

      Am liebsten hätten sie sich gegenseitig umgebracht.

       Lass fahren dahin,

       sie haben´s kein Gewinn,

       das Reich muss uns doch bleiben.

      Rache für Seitun

      Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen! Gemach hatte Gaidha ihr Baby gebadet, gepudert, gesalbt und gewickelt, fürsorglich gestillt, sorgsam in den Kinderwagen gebettet, fortlaufend die erste Sure, die Öffnende, im Singsang gebetet. Das gab ihr Kraft, konnte aber die immerwährende Angst in ihr nicht bändigen.

      Sie verabschiedete sich von der Mutter, als wär´s ein Abschied für immer. Die Mutter umhalste die Tochter, als mochte sie ihr noch verbliebenes Kind nicht mehr loslassen wollen, schaute fest in seine Augen und sprach erhabenen Tones: „Über alles geliebte Gaidha, du süße Blüte des Mandelbaumes im Garten meines Herzens, gedenke deines Vaters, gedenke deines Mannes, gedenke deiner Brüder, die ohne zu zögern getan, was zu tun ihnen geboten!“ Sie hob beide Hände in stummer Klage.

      Gaidha verneigte sich ehrfürchtig in Liebe zur Mutter, welche die Tochter und den Enkelsohn segnete, sich wünschte, die beiden Lieben, die ihr noch geblieben, wegzusperren im Felsenkeller des Hauses. Jetzt sah sie ihn wieder: Azrail, den Engel des Todes. Da war Gaidha schon in den Linienbus gestiegen, der zur Innenstadt fuhr.

      Vorm neuen Kaufhaus pulsierte das Leben. Autofahrer drängelten im Stau, Fußgänger quirlten, irrer Lärm sirrte und flirrte. Ein Soldat half, den Kinderwagen aus dem Bus zu bugsieren. Gaidha dankte nur mit einem leichtem Nicken des Kopfes, denn sie stehlen unser Land, dachte sie, nehmen uns das Wasser, die Würde, alles, was uns lieb und wert ist, selbst wenn sie freundlich tun.

      Gaidha