Mira Micheilis

Meraviglia und der verrückte Erfinder


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in Unordnung bringen? Mit wem würde er jetzt Tee aus chinesischen Porzellantassen trinken? Was würde er ohne sie machen, allein unter diesen Rabauken?

      Aber nein! Sie war jetzt alt genug und ein Piratenschiff war kein Ort für junge Frauen.

      Außerdem hatte sie sich einen Floh so tief in ihr Ohr gesetzt, dass keine Vernunft sie dort erreichen konnte.

      Was für eine fixe Idee sie da hat, dachte der Kapitän nicht zum ersten Mal.

      Wie bei Piraten üblich, war der Abschied ohne viele Tränen verlaufen. Er hatte ihr die Heuer ausgezahlt, viel Glück gewünscht und den Ratschlag gegeben, ihren Plan nicht gleich der ganzen Welt zu erzählen. Man würde sie für verrückt halten und das konnte gefährlich werden.

      Meraviglia hatte aber nur genickt. Da er nicht mehr für sie tun konnte, hatte er, nach altem Brauch, einen Wischmob gepackt und sie damit von Bord getrieben. Die Mannschaft kroch, kaum da die Zeremonie vorbei war, zurück in ihre Kajüten. Niemand mochte einen Abschied mit Tränen. Besonders nicht, wenn sie aus den eigenen Augen kamen.

      „Meinst du, wir sehen sie wieder, Kapitän?“ Der Steuermann durchstreifte mit seinem Auge (er hatte nur eines) die Menge, um vielleicht doch noch irgendwo den Hut, den er so gut kannte, zu entdecken.

      „Ich hoffe nicht“, antwortete der Kapitän vielsagend.

      Der alte Steuermann paffte wissend an seiner Pfeife. „Es wäre nicht das erste Mal, dass sie zurückkommt.“

      „Dieses Mal ist es anders“, antwortete Barbanero überzeugt. „Sie wird das schaffen.“

      Der Steuermann wollte etwas erwidern, ließ es jedoch, nach einem Blick zu seinem Kapitän, lieber bleiben. Seine Brauen waren in Furchen gelegt, wie Barbanero es zu tun pflegte, wenn er Wolken am Horizont beobachtete, um heraus-zufinden, ob sie Sturm oder Sonne bedeuteten.

      Sie wird das schaffen, dachte er bei sich. Aber vielleicht sollte man ihr ein wenig unter die Arme greifen.

      „Rajab!“, rief Barbanero über die Schulter hinweg. „Lauf ihr nach. Pass auf sie auf! Ich will sie hier nicht wieder sehen.“

      ***

      Meraviglia, die tränenreiche Abschiede genauso wenig mochte wie ihre Piratenfamilie, drehte sich nicht um, sondern drängte sich mühelos durch die Menschenmenge Richtung Stadtmitte. Doch je weiter sie sich vom Hafen entfernte, desto mehr Menschen bemerkten ihre seltsame Erscheinung.

      Dabei waren die Bewohner einer Hafenstadt nur schwer zum Staunen zu bringen. An den Anblick einbeiniger Piraten und dreibeiniger Esel waren sie durchaus gewöhnt. Aber ein hosenbeiniges Mädchen war ihnen noch nicht unter die Augen gekommen.

      Überhaupt wollte an dieser Fremden wirklich gar nichts zusammenpassen. Statt der hölzernen Schuhe, wie sie in Braccio üblich waren, trug sie lederne Seemannsstiefel mit blank polierten Schnallen. Passend dazu, schmückte ein breitkrempiger Hut ihren Kopf und im linken Ohr, wie es sich für einen echten Piraten gehörte, funkelte ein goldener Ring. Die struppeligen Haare waren provisorisch zusammengebunden und nicht, wie es sich für ein anständiges Mädel gehörte, zu einem Zopf geflochten und unter einem Häubchen versteckt.

      Nicht einmal der Mantel, ein Abschiedsgeschenk des Kapitäns, machte Eindruck. Barbanero hatte ihn extra für sie anfertigen lassen. Er war in einem dunklem Blau, verziert mit schwarzen Stickereien, die, mit sehr viel Fantasie, als Wellen und Vögel darstellen mochten.

      Meraviglia fragte sich, welcher der Piraten (denen doch allen mindestens ein Finger oder gar die ganze Hand fehlte) sich zu solchen Stickereien durchgerungen hatte.

      Ungeheuerlich war das Wort, das an diesem Morgen durch die Straßen sauste, wie ein streunender Kater. Den friedliebenden Bewohnern war nämlich alles Ungewöhnliche und Neue ein Graus. Sie hassten es, wie das Bad am Sonntag.

      Selbst die Stadt bemühte sich unter ihren italienischen Geschwistern nicht aufzufallen. An der gesamten Küste gab es nicht eine Hafenstadt, die nicht auf die eine oder andere Weise Braccio ähnelte. Wie Genua, lag Braccio in einer Bucht. War wie Venedig mit Flüssen und Kanälen durchzogen und hatte sich die Hügel, die die Bucht umschlossen, von Neapel abgeschaut.

      Manche Reisende, die das Pech hatten, hier in den Hafen einzulaufen, hätten Braccio als langweilig und einfallslos bezeichnet. Aber Meraviglia, die ihr halbes Leben auf einem Piratenschiff verbracht hatte, dachte anders. Auf hoher See waren die Möglichkeiten für Abwechslung sehr spärlich. Da konnte selbst der langweiligste Fischhändler als Kuriosität durchgehen.

      Je weiter Meraviglia in das Stadtinnere vordrang, desto mehr veränderte sich das Stadtbild und die Bewohner. Die riesigen Lagerhallen und Kontorhäuser wurden durch kleine Fachwerkhäuser ersetzt. Die breiten Straßen waren trocken und übersät mit den Resten des noch so jungen Tages. Ein ganzes Leben hätte an aus den Abfällen, die sich am Straßenrand sammelten, ablesen können.

      Da waren Apfelkerne: Reste eines kargen Frühstücks. Schnapsdrosseln, die ein Wirt in gleichgültiger Gewohnheit aus seinem Gasthaus auf die Straße kehrte. Und Katzen, die erbarmungslos von Fensterbrettern geschubst wurden und vorbeilaufenden Unglücklichen auf die Köpfe fielen.

      Und überall, in jedem Winkel und jeder Ritze, mehr Menschen als man jemals hätte zählen können. Marktfrauen mit Armen, gestählt von der harten Arbeit. Tagelöhner. Bauchladenhändler, die sich flanierenden Leuten in den Weg stellten und ihre Waren anboten.

      Vom Meer aus hatte Meraviglia gesehen, wie sich die weißen Häuser von der Bucht über eine kleine Ebene bis hinauf auf die umliegenden Hügel erstreckten. Zwischen ihnen schlängelten sich, blau glänzend, unzählige. Und oben, ganz oben auf den Hügeln, umgeben von einer weißen Stadtmauer, die sich vom einen Ende der Bucht zum anderen erstreckte, ragten die Türme eines mächtigen Schlosses empor, die in der warmen Sonne leuchteten.

      Meraviglia war aber nicht wegen der schönen Aussicht nach Braccio gekommen. Es mochte in Italien viele Städte wie diese geben, doch eines machte sie besonders und war der eigentliche Grund, warum sie gekommen war:

      In Braccio gab es Erfinder. Und nicht nur Erfinder. Es gab sogar eine Erfindergilde! Meraviglia konnte sich gar nicht vorstellen, wie viele kluge, verrückte und einfallsreiche Köpfe hier auf engstem Raum lebten und arbeiteten. Angeblich hatte Braccio die größte Dichte an Erfinderwerkstädten in ganz Italien und sie konnte es kaum erwarten, denen eine weitere hinzuzufügen.

      Meraviglia hatte vom Tischler in Damaskus das Handwerk gelernt. Der Mann war etwas zerstreut gewesen, weswegen sie von klein auf bei allen Arbeiten mitgeholfen hatte. Schon bald packte sie die Lust, nicht nur langweilige Möbel zusammenzunageln, sondern ausgefallene Apparaturen zu bauen. Windräder, rollende Schiff, Gehhilfen für beinlose Hunde und allerlei andere Dinge, die nach einmaligem Gebrauch gleich wieder kaputt gingen. Und kaum hatte sie von einem Seefahrer von der Erfinderstadt Braccio gehört, konnte sie nichts mehr auf ihren Füßen halten.

      So durchstreifte Meraviglia die vielen Viertel, überquerte zahlreiche Brücken und ließ sich von einer lauten Menschenmenge auf einen riesigen Platz treiben. An dessen Ende ragte majestätisch eine unfertige Kathedrale in den Himmel. Das Bauwerk war so hoch, dass Meraviglia den Kopf in den Nacken legen musste, um die Spitze zu sehen.

      Auf einem klapprigen, im Wind schaukelnden Gerüst liefen Handwerker und Arbeiter herum, wirbelten Staub auf und ließen kleine Steinchen auf die Menge unter sich regnen. Erst beim näheren Herankommen sah Meraviglia, dass sie kleine Figuren in die Kathedrale meißelten.

      Wäre die Piratin nicht auf dem Meer aufgewachsen, sie hätte die Statuen sofort als die verschiedenen Heiligen und Schutzpatrone der Stadt ausgemacht. Hätte gewusst, welches der dicken Kinder mit Flügeln, welchen Engel darstellen sollte und welche hässliche Fratze ein Teufelchen oder ein Stadt-ältester war.

      Da sie aber nie zuvor eine Kathedrale gesehen hatte (sie waren zu dieser Zeit auch eher selten), sahen die Figuren für sie nur wie zu klein geratene Menschen mit viel zu großen Köpfen aus.

      Allein in den bunten Fenstern waren Symbole zu erkennen, die sie kannte. Um die großen Bilder