Mira Micheilis

Meraviglia und der verrückte Erfinder


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doch der Gondoliere schlug ihr auf die Finger.

      „Hier wird niemand spazieren gefahren. Ne Überfahrt kostet nen halben Taler.“

      Meraviglia rechnete kurz nach, ob sie sich den Luxus leisten wollte und ein Blick zurück zum Kathedralsplatz nahm ihr die Entscheidung ab. Die Tribüne und der wütende Bürgermeister waren kaum noch zu sehen, doch die Rufe der Menge waren lauter als zuvor.

      „Sie holt den Ring zurück!“, rief jemand. „Den Dicken würde ich auch nicht nehmen“, ein anderer.

      „Wie viel kostet es, wenn ich im Wasser bleibe?“, fragte Meraviglia. Sofort erntete sie einen missmutigen Blick und etwas, das sich anhörte wie Knauseriges Volk.

      Nachdem der Preis ausgehandelt war, zog der Mann sie mit seiner Gondel ans andere Ufer und ließ sie an einer Anlegestelle, weit weg von den Augen Neugieriger, an Land.

      Was für ein Ärgernis!, dachte sie sich. So hatte sie sich den Anfang ihres Lebens in der Stadt nicht vorgestellt.

      Was soll’s! Ändern konnte sie es nun auch nicht mehr. Dann blieb nur, sich über die kleine Abkühlung zu freuen.

      Doch hätte Meraviglia in diesem Moment gewusst, welch mächtigen Feind, sie sich gerade gemacht hatte, sie hätte sich zurück auf die Levanta gewünscht. Signore Carlozzo Gorgonzola war kein Mann, der Ruhm gerne teilte. Und ganz besonders keiner, der es einfach so hinnahm, wenn man sich auf seine Kosten amüsierte. Während Meraviglia am Ufer ihren Hut und ihren Gehrock auswrang, würgte Gorgonzola in seinen Händen den Hals des Mädchens, das ihn vor der ganzen Stadt lächerlich gemacht hatte.

      Das würde sie ihm büßen, schwor er sich. Er würde sie finden und dann würde sie es ihm büßen!

      2. Der tanzende Frosch

      Mit Wasser in den Stiefeln und Algen in den Haaren beschloss Meraviglia, dass sie genug Abenteuer für einen Tag gehabt hatte und dass es an der Zeit war, eine Bleibe zu suchen. Sie war in dieser Hinsicht nicht wählerisch: Jahre auf einem Piratenschiff hatten sie gelehrt, an den unmöglichsten Orten zu schlafen (Holzfässer konnte sie am wenigsten empfehlen).

      Doch egal wo sie hinkam, schon an der Tür sagte man ihr, sie solle schleunigst wieder verschwinden. Allem Anschein nach mochte man in Braccio keine Fremden. Natürlich durften Seeleute das Hafenviertel nicht verlassen, aber eine Stadt, die vom Handel lebte, durfte bei ihren Gästen doch nicht so wählerisch sein.

      Nicht einmal, als sie den Ohrring abgenommen, den großen Piratenhut unter ihrer Jacke verstaut hatte und sich den Gehrock so tief herunterzog, dass man ihre Hosen nicht sehen konnte – nicht einmal dann wollte sie jemand aufnehmen. Der Tag, der mit großen Hoffnungen angefangen hatte, wollte sich in einem einzigen Desaster zu Bett begeben.

      „Und wenn ich im Stall schlafen muss, ich finde etwas!“, rief Meraviglia entschlossen. Sie wollte sich von der Ablehnung nicht unterkriegen lassen. Was für ein Pirat wäre sie sonst?

      Ohne es zu bemerken, verließ Meraviglia über eine unauffällige Brücke, die genauso gut ein kleiner Weg hätte sein können, die zentrale Insel der Stadt und geriet in ein weniger belebtes Viertel. Die Straßen wurden enger. Die Häuser wurden kleiner. Traurig blickten die grauen Fenster, hinter denen kein Licht zu sehen war, sie an.

      Das Viertel, wie Meraviglia später erfuhr, hieß Blancapella, so benannt nach einer weißen Kapelle, die den Mittelpunkt der kleinen Insel bildete. Diese war in der Vergangenheit tatsächlich einmal weiß gewesen, doch der Staub der Zeit hatte sie in bescheidenes Grau gefärbt.

      Den Bewohnern des Viertels war es ähnlich ergangen. Ihre Augen waren müde zu Boden gesenkt, ihre Haltung von schwerer Arbeit gebeugt und eine ungesunde Blässe lag in ihren Gesichtern. Sie hätten Bewohner einer dunklen Höhle sein können, so kümmerlich sahen sie aus. Selbst der Himmel war von einem blassen Dunst bedeckt und nährte sich von dem aufsteigenden Rauch der paffenden Kamine.

      Eine trostlose Gegend, wollte Meraviglia fast denken, doch in ihrem Kopf formte sich das triste Stadtbild zu einer grauen Leinwand, die Platz für neue Farben und Muster bot. Alles was es brauchte, war ein Erfinder, der die alten Gemäuer ein wenig in Bewegung brachte. Und Meraviglia würde sich freiwillig von der Planke schubsen, wenn sie nicht irgendwann dieser Erfinder wäre.

      Abgelenkt durch die Veränderung im Stadtbild, bog Meraviglia achtlos in eine dunkle Seitengasse. Es war eine dieser Gassen, die geheimen, nächtlichen Treffen als Schauplatz diente und für gewöhnlich von einem dichten Nebel durchzogen war.

      Die Häuser waren gegeneinander gelehnt, als steckten sie ihre Köpfe zusammen, um über den Eindringling zu tuscheln. Bis auf zwei turtelnde Katzen und eine bucklige Lumpensammlerin, lag sie vollkommen verlassen dar.

      Meraviglia blickte zum Himmel. Das strahlende Azurblau des Tages verfärbte sich zu einem dunklen Kornblumenblau und erinnerte sie daran, dass sie schleunigst eine Bleibe…

      „Au!“ Meraviglia stolperte geradewegs über die kleine, bucklige Frau und musste sich an ihr abstützen, um nicht stürzen. Doch diese verlor ihrerseits das Gleichgewicht und plumpste rückwärts in die Gosse.

      „Es tut mir Leid!“, rief Meraviglia erschrocken. „Ich habe Euch nicht gesehen. Ich meine, ich habe Euch schon gesehen, vorhin. Nur dann habe ich Euch nicht gesehen und bin einfach weiter gelaufen und…“.

      Die kleine Frau achtete nicht auf die Ausflüchte. Ächzend und stöhnend, wie ein altes Schiff, rappelte sie sich auf.

      „Ja. Ja. Nie sehen sie dich, Alessi. Bist einfach zu klein, Alessi. Musst besser aufpassen, sonst kommst du wieder in die Tonne, Alessi. In die Tonne kommst du dann!“, brabbelte sie, das Gesicht tief hinter einer Kapuze verborgen.

      Meraviglia bekam Bammel vor der komischen Frau, aber vielleicht waren ja alle Menschen in Braccio einwenig seltsam.

      Die Lumpensammlerin bemühte sich ihre herunter gefallenen Habseligkeiten wieder einzusammeln. Der Korb war davon gerollt und sein Inhalt war auf dem Pflaster verstreut. Meraviglia beeilte sich zu helfen. Sie hob den Korb auf und…

      „Nicht!“

      Die bucklige Frau riss Meraviglia den Korb aus den Händen und klammerte ihn fest an sich, als beschützte sie einen kostbaren Schatz.

      „Ich wollte nur helfen“, versuchte die Piratin zu erklären. „Ich nehm Euch nichts weg.“

      Die kleine Frau blieb unberührt stehen.

      „Das ist Allesis Korb!“, sprach sie warnend. „Und Alessis Lumpen! Nur Alessi darf sie haben. Sonst kommen die Ratten. Die Ratten kommen und holen Alessi!“

      Das war eine Vorstellung, die auch Meraviglia erschauern ließ. Sie konnte die Ratten hören. Hunderte… Tausende! Wie sie sie aus ihren dunklen Löchern beobachteten.

      „Ich werde sie nur für Euch aufheben“, beschwichtigte Meraviglia und sammelte die Lumpen, unter dem kritischen Blick der Buckligen, ein. Sie waren feucht und stanken fürchterlich nach verdorbenem Essen und Gerüchen, die sie noch nie zuvor gerochen hatte, aber sie stellte sich vor, dass sie so riechen würde, wenn sie sich hundert Jahre nicht wusch.

      Der Piratin drehte sich der Magen um. Sie versuchte nicht durch die Nase zu atmen. Schnell verfrachtete sie die Lumpen in den Korb, wich von der Quelle des Gestankes zurück und wischte sich die Hand am Mantel ab. Erst jetzt hatte sie Gelegenheit die Lumpen-Frau genauer zu betrachten.

      Das Alter war, dank der dicken Schicht aus Schmutz und zerrissener Kleidung, nicht zu erraten. Sie konnte hundert Jahre alt sein oder fast noch ein Kind.

      Plötzlich kam eine Ratte aus einem Loch in der Mauer geprescht und lief direkt zwischen Meras Füßen hindurch. Die Piratin sprang vor Schreck in die Luft. Sie hatte keine Angst vor Ratten. Die hatte es auf der Levanta zu Hauf gegeben. Aber da hatten die Nager wenigstens Benehmen gezeigt und liefen nicht einfach zwischen den Füßen durch.