Mira Micheilis

Meraviglia und der verrückte Erfinder


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und konnte doch nicht verhindern, dass Meraviglia ein Schauer über den Rücken lief bei dem Gedanken, wie viele Rattenaugen sie gerade aus den dunklen Ecken der Wirtschaft beobachten mochten.

      Die Wirtin begann zügig die leeren Krüge abzuräumen. Der Abend war anstrengend gewesen und sie hatte die Absicht ihn so schnell wie möglich zu Ende zu bringen.

      „Wegen dem Zimmer…“, begann Meraviglia.

      „Jetzt hör mal zu, du Makrele. Du kannst mit Geld und Bohnensuppe um dich schmeißen so viel du willst“, fauchte die Wirtin und stemmte die Fäuste in die Hüften. „Aber wenn du hier bleiben willst, dulde ich nicht, dass du mir den gesamten Flohzirkus ins Haus schleppst. Ist das klar?“

      Die sonst so mutige Piratin wich vor den böse funkelnden Augen zurück.

      „Ob das klar ist?“

      Meraviglia nickte hörig.

      „Gut. Dann komm. Ich zeig dir dein…“.

      Plötzlich hörten sie in der endlosen Finsternis des Raumes das wehleidige Knarzen von störrischem Holz. Ein Stuhl wurde verschoben. Erschrocken starrten sie in die dunkle Ecke, aus der das Geräusch gekommen war. Dumpfe, schwere Schritte hallten durch den leeren Raum, immer näher kommend. Aus der klebrigen Finsternis löste sich eine dunkle Gestalt, tief in einen langen Mantel verhüllt, das Gesicht vor dem neugierigen Licht der Kerze schützend.

      „Äh… oh… Herr… Euch hatte ich ganz vergessen“, stammelte Potata. „Ihr wollt immer noch ein Zimmer?“

      Der Mann nickte. Meraviglia lief ein Schauer über den Rücken. Sie war niemand, den man leicht erschrecken konnte, aber der Gedanke, dass jemand sie die ganze Zeit aus einer dunklen Ecke beobachtet hatte, behagte ihr nicht.

      Die hohe Gestalt, die breiten Schultern – unter dem weitem Umhang und dem wenigen Licht, sah er aus wie ein Wesen aus der Unterwelt. So stellte sich Meraviglia den Sensenmann vor. Gevatter Tod, der arme Seelen zu späten Stunden an unheilvollen Orten ereilte. Und der wollte hier übernachten?

      „Äh. Ja. Dann folgt mir nach oben“, stotterte Potata und führte sie mit der einzigen noch brennenden Kerze, durch eine Tür in einen langen Flur. Meraviglia wollte dem Mann Platz machen, damit sie ihn nicht im Rücken hatte, doch er wartete stumm bis sie den ersten Schritt tat. Nur widerwillig folgte sie seine Anweisung und ging voran.

      Schweigend tasten sie sich den dunklen Gang entlang. Meraviglia drehte sich nicht um. Ihr Blick war fest auf die schwankenden, dicken Hüften der Wirtin gerichtet. Aber sie konnte spüren, wie der Fremde sie anstarrte. Konnte seinen Atem in ihrem Nacken spüren und hörte seine Schritte, wie sie ihre imitierten.

      Sie kamen an eine Treppe, deren Ende Meraviglia nur sehen konnte, da Potata schon vorgeeilt war und oben auf sie wartete. Vorsichtig tastete sie sich an den Wänden entlang, die Schritte des Mannes dicht hinter ihr. Nur nicht umdrehen. Nur nicht…

      WUSCH!!! Plötzlich rannte etwas Pelziges zwischen ihren Füßen hindurch. Meraviglia erschrak, verfehlte die nächste Stufe, ruderte mit den Armen, verlor das Gleichgewicht und kippte rücklings nach hinten. Die Dunkelheit schloss sich über ihrem Kopf. Zwei Hände ergriffen ihre Arme und sie blieb Mitten in der Luft hängen.

      „Vorsicht“, murmelte eine tiefe Stimme. Sie wurde zurück auf die Füße geschoben. Meraviglia konnte dem Drang zurückzuschauen nicht widerstehen, aber alles was sie sah, war ein bärtiges Kinn unter einer tief herunter gezogenen Kapuze. Und eine tiefe, hässliche Narbe, die sich vom rechten Ohr über den ganzen Hals zog.

      Er bemerkte ihren Blick und zog seinen Kragen höher. Ertappt drehte sich Meraviglia schnell um und kletterte, wacklig auf den Beinen, die Treppe hinauf.

      Die Wirtin erwartete sie vor dem ersten Zimmer, gleich neben der Treppe und holte einen Bund hervor, an dem ein Dutzend Schlüssel hingen. Es dauerte eine Weile, bis sie den Richtigen gefunden hatte. Meraviglia, die den Blick des Fremden noch immer auf sich spürte, flehte innerlich, sie würde sich beeilen.

      „Äh. Ach. Hier. Ja, das ist er.“

      Sie übergab dem Fremden den Schlüssel. Eine Hand, in schwarzes Leder gehüllt, drang in das Licht, ergriff den Schlüssel und verschwand wieder im Dunkel.

      „Naja. Dann. Gute Nacht. Und. Ähm. Frühstück gibt es bei Sonnenaufgang. Oder. Ähm. Wann immer Sie wollen.“

      Der Mann schloss schweigend die Tür auf und spähte in die Kammer, als erwartete er jemanden darin zu entdecken. Dann trat er ein und verschmolz wie ein Schatten mit der Finsternis des Zimmers. Die Tür schloss sich. Kein Geräusch war mehr zu hören.

      Potata und Meraviglia standen wie erstarrt da, den Blick auf die Tür geheftet, hoffend, dass sie sich ja nicht wieder öffnete.

      „Dein Zimmer ist gleich nebenan“, erklärte Potata.

      Meraviglia packte sie erschrocken am Arm und schüttelte eisern den Kopf, mit einem Gesichtsausdruck, als hinge ihr Leben davon ab.

      „Dann…“, und Potata flüsterte dies so leise sie konnte. „Dann das Zimmer am Ende des Flurs. Direkt neben meinem.“ Meraviglia war mulmig bei dem Gedanken, allein in einem dunklen Zimmer schlafen zu müssen. Aber was sollte sie tun? Hinaus in die Kälte? Da fiel ihr wieder etwas ein.

      „Warum ist es gefährlich nach Mitternacht nach draußen zu gehen?“

      Potata seufzte und sah so aus, als wollte sie wieder eine ihrer Tiraden beginnen, doch ein Blick zum Zimmer des Fremden belehrte sie eines besseren. Sie kam ganz dicht an Meraviglia heran und flüsterte so leise, dass sogar die Mäuschen in den Ecken ihre Ohren spitzen mussten.

      „Es ist so:

       Hat die zwölfte Stund‘ geschlagen,

       sollte niemand es mehr wagen,

       auf die Straßen raus zu gehen,

       will er nicht um sein Leben flehen.

       Drum eile heim, eh es Mittnacht schlägt,

       und Nacht und Nebel sich um dich legt,

       hat dich das Dunkel erst umschlossen,

       werd‘n nur noch Tränen für dich vergossen.

      Das hat vor einiger Zeit angefangen. Menschen verschwan-den. Spurlos. Die Leute hörten seltsame Geräusche vom Fluss. Manche hörten es in der Nacht an der Tür klopfen und als sie sie öffneten, war niemand da und sie waren auf einmal auch nicht mehr da. Und dann, vor fünf, sechs Jahren verschwand ein ganzer Trupp der Nachtwache. Mit Schwert und Pferd. Ihre Mäntel fand man im Fluss treiben.

      Seither hat der Fürst verboten, sich nach Mitternacht auf der Straße aufzuhalten. Kommst du auch nur eine Sekunde nach dem letzten Schlag der Glocke an ein Haus, egal wie sehr du bettelst und flehst, es wird dir niemand die Tür öffnen.“

      Meraviglia stellten sich die Nackenhaare zu Berge. Sie versuchte den Gedanken an Alessi, die gerade durch einsame Straßen eilte, zu verdrängen und ließ sich von Potata zu ihrem Zimmer führen.

      „Du kannst von innen abschließen“, flüsterte die Wirtsfrau und übergab ihr den Schlüssel. „Und schließ die Fensterläden, bevor du schlafen gehst. Und hier. Du kannst die Kerze haben. Ich finde mich auch im Dunkeln zurecht.“

      Sie wollte Meraviglia die Kerze reichen, aber diese lehnte ab.

      „Nein, nein. Behalt sie nur. Ich komme schon zurecht.“

      Potata zuckte mit den Schultern und verschwand in ihrem Zimmer. Tastend trat Meraviglia in das Dunkel ihrer Kammer. Sie lauschte. Alles war still. Das Gasthaus hatte sich zu Bett begeben. Plötzlich umstrich etwas Haariges ihre Beine.

      „Rajab, du elender Flohsack! Ich werde dich umbringen!“, fauchte Meraviglia das kleine, schwarz-weiße Kapuziner-Äffchen an, das sich unbeeindruckt auf dem Bett ausbreitete. „Und wer hat dir eigentlich gesagt, dass du mir nachlaufen