ist ein reines Arbeitshalfter, aber es war schon so spät ...“
Mojo atmete tief ein und schüttelte ungläubig den Kopf. „Man sollte ab und zu sein Hirn einschalten, fast hätte ihn deine Ungeduld das Leben gekostet. Du musst noch viel lernen, kleine Schwester“, sagte er vorwurfsvoll. Franzi schwieg betroffen. Ihr war speiübel. Nie hätte sie es sich verziehen, wenn Svartur etwas passiert wäre. Der Rappe bewegte sich unruhig, stand kurz darauf auf und schüttelte sich. Mojo lobte ihn und streichelte seinen kräftigen Hals. Nervös scharrte der Wallach mit dem Vorderhuf und blickte mit weit aufgerissenen Augen aus dem Hänger.
„Es scheint ihm gut zu gehen“, stellte Mojo beruhigt fest. Franzi nickte erleichtert.
„Ich hab‘ noch ein normales Stallhalfter in meinem Rucksack“, fiel ihr gerade ein, als ein Lkw direkt neben dem Hänger ohrenbetäubend laut hupte. Svartur bäumte sich auf, drehte sich blitzschnell auf der Hinterhand und galoppierte panisch aus dem Hänger heraus. Franzi griff vergeblich nach ihm.
„Nein, Svartur nicht ...“, schrie sie ihm noch nach. Mojo rannte dem Pony hinterher. Das sprang hastig weg von den angsteinflößenden Autos und Lkw, über die Leitplanke und hinaus aufs freie, schneebedeckte Feld. Die Geschwister hetzten ihm hinterher. Bei jedem Schritt sanken sie knietief im Schnee ein und kamen nur langsam vorwärts. Svarturs Silhouette wurde immer kleiner, bis sie hinter einem Hang verschwand.
Frustriert blieb Mojo stehen und beugte sich keuchend vornüber. Mit zittrigen Knien stand Franzi ein paar Meter hinter ihm und drückte fest gegen ihre Seite, in der Hoffnung, damit das fiese Seitenstechen zu vertreiben. Ihr Hals schmerzte. Sie fühlte sich so schlecht wie noch nie in ihrem Leben.
Was habe ich nur getan? Svartur ist weg. Lieber Gott, bitte lass ihm nichts zustoßen. Bitte, bitte, bitte ...
Mojo kam mit hochrotem Gesicht auf sie zu.
„Ich ruf‘ die Polizei an. Die müssen uns helfen.“ Franzi nickte mit Tränen in den Augen. „Vielleicht können sie ja mit einem Hubschrauber nach ihm suchen“, sagte sie hoffnungsvoll.
„Beim Hof müssen wir auch anrufen.“ Mojo zog sein Smartphone aus der Jackentasche.
„Ich muss den Wagen und den Anhänger heute noch zurückbringen“, fügte er verzweifelt hinzu. Franzi schwieg betreten.
Wie kann er jetzt nur an den blöden Hänger und den Wagen denken. Svartur ist weg! Und vielleicht sehen wir ihn nie wieder.
Dunkle Punkte tanzten vor ihren Augen. Ihr war schwindlig. Kraftlos stapfte sie hinter ihrem Bruder durch den Schnee. Mojo blieb stehen und zog schwungvoll einen seiner Lederhandschuhe aus, dabei rutschte ihm sein Smartphone aus der Hand, fiel in den Schnee und verschwand augenblicklich darin.
„So ein Mist“, fluchte er, bückte sich und suchte nach dem flachen Gerät. Hektisch wühlte er im Schnee, sodass man bald nicht mehr erkennen konnte, wo genau es hineingefallen war.
Franzi schaute sich immer wieder nach Svartur um, aber er blieb, wie auch das Smartphone, verschwunden.
Tränen verschleierten ihren Blick. Mojo grub wie ein Hund im Schnee. Die Verzweiflung ließ ihn lange nicht ermüden. Auch Franzi schaufelte den Schnee durch. Nach einer Weile fiel ihr ein: „Im Auto liegt mein Handy. Komm, wir holen es, dann kann ich dich anklingeln.“
„Geh‘ du, ruf‘ mich an und warte im Wagen auf mich!“ Franzi nickte und stapfte mit bleischweren Beinen los.
Tief saugte der Ausreißer die kalte Luft in seine Lungen. Endlich weg von alldem, was ihm Angst einjagte. Übermütig buckelte er und galoppierte immer weiter. Der lockere Schnee umwirbelte ihn und ließ sich auf seinem Fell nieder. An seinen Tasthaaren hafteten zarte weiße Kristalle. Als er endlich langsamer wurde, dampfte sein Körper und umhüllte ihn in eine weiße Wolke. Ketten von kleinen Eisklumpen hingen an dem langen Fell seiner Beine. Locker trabte er einen Hang hinunter. Ab und zu senkte er den Kopf und blies in die dichte Schneedecke hinein. Schneeflocken stoben daraus hervor und wirbelten einen Moment durch die Luft. Plötzlich blieb er stehen und verharrte regungslos im tiefen Schnee. Aufmerksam und fluchtbereit beobachtete er seine weiße Umgebung.
Unglaubliche Begegnung
Sally lag auf ihrem Bett und starrte zur Decke. Sie hasste das Leben und besonders das, was das Schicksal aus ihr gemacht hatte. Einen Krüppel, den keiner mehr liebte. Und damit meinte sie Liebe, kein Mitleid, das verabscheute sie. Ihre Familie konnte ihr nichts mehr recht machen. In allem sah sie nur Mitleid und sie wurde ungerecht, launisch und hart.
Bis zu ihrem Fahrradunfall vor einem Jahr war sie die neunjährige, hübsche, lebenslustige Sally gewesen, die jeder mochte. Der Liebling ihres Vaters. Jetzt nervte er nur noch, mit seinen überflüssigen Geschenken und der geheuchelten Liebe.
Und Mutti, die weint sich noch mal die Augen aus dem Kopf. Sie meint wohl, ich höre nicht, wie sie Nacht für Nacht leise in ihr Kissen schluchzt.
Angeekelt blickte Sally an ihrem Körper hinab. Ihr Blick ruhte auf ihren leblosen dünnen Beinen, die verdreht auf der Decke lagen.
„Ich hasse euch!“, zischte sie und zwickte sich fest in den Oberschenkel. Dass ihre Krankengymnastin, mit der sie ein paar Mal in der Woche trainierte, sie auf einen weiteren blauen Fleck ansprechen würde, interessierte sie nicht.
Warum gerade ich? Konnte es nicht jemand anderem passieren? Habe ich was Schlimmes getan, dass ich so hart bestraft werde?
Es waren immer dieselben Gedanken, die sie beschäftigten. Früher hatte sie täglich gebetet und Gott um Gesundheit angefleht. Doch inzwischen hatte sie es aufgegeben.
Es hat alles keinen Sinn mehr. Ich bin doch nur eine Belastung für Mutti und Vati.
Seit zwei Tagen versteckte Sally ihr Essen in einem Schuhkarton im Kleiderschrank. Und immer wenn ihre Mutter „Hat es dir geschmeckt, meine Liebe“, fragte und ihr liebevoll übers Haar strich, antwortete Sally: „Ja Mami, war lecker.“ Ihr schlanker Körper magerte rasch ab und die Kraft schwand.
Jede Nacht plagte Sally der gleiche Albtraum: Nach der Schule radelte sie nach Hause. Plötzlich quietschten Reifen, ein großes, schwarzes Auto kam direkt auf sie zugerast. Angstvoll starrte sie der Limousine entgegen. Sie sah noch den Qualm von den quietschenden Reifen aufsteigen. Verschmorter Gummigeruch stach ihr in die Lunge, als sie zu Boden geschleudert wurde. Schwärze umgab sie. Sie bekam nicht mehr mit, wie einer ihrer Rückenwirbel zertrümmert wurde und damit auch das Leben aus ihren Beinen wich.
Kalter Angstschweiß stand ihr auf dem Rücken, wenn sie mit klopfendem Herzen aufwachte. Sie musste feststellen, dass der Traum der bitteren Wahrheit entsprach. Monatelang suchten sich heiße Tränen den Weg über ihre Wangen, um im Stoff des Kopfkissens zu versickern. Mittlerweile waren die Tränen so versiegt wie ihre Hoffnung. Sie hatte nur noch den Wunsch zu sterben und ihren Eltern keine Sorgen mehr zu bereiten. Denn obwohl sie so ruppig zu ihnen war, liebte sie ihre Eltern so arg, dass es wehtat.
Der Weg zum Jeep kam Franzi unendlich lang vor. Kraftlos torkelte sie die letzten Schritte auf die Beifahrertür zu und riss sie auf. Mit zittrigen Fingern zog sie sich auf den Sitz und schloss für ein paar Sekunden die Augen. Lila Punkte zuckten davor. Ihr Herz pochte hart gegen den Brustkorb. Nachdem sich ihr Atem beruhigt hatte, angelte sie nach ihrem Rucksack und suchte darin herum. Endlich fühlte sie ihr Handy, zog es heraus und wählte Mojos Nummer. Ihre Nase fing an zu laufen und Franzi wischte sie mit dem Jackenärmel sauber. Sorgenvoll blickte sie auf ihre Uhr.
„Es ist nicht mehr lang hell, dann haben wir ein noch größeres Problem“, murmelte sie. Mojo meldete sich: „Ich hab’ s. Ich komm‘ jetzt.“
Franzi nickte und drückte ihn weg. Eine dünne Schneeschicht schmolz auf ihren dunkelblonden Haaren und sickerte auf die Kopfhaut. Ihre Schuhe, Socken und Jeans waren durchnässt. Sie zitterte vor Kälte und Angst. Gerade als ihr Bruder die Fahrertür öffnete, überlegte sie, ob sie in ihrem Koffer nach frischen Sachen suchen sollte.
Atemlos