Michael Stuhr

STURM ÜBER THEDRA


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Schiffskörper, dass die `Sesiol' langsam aus dem Schlick gehoben wurde. Trotz der Windstille im Hafen begann der lange Mast ein wenig zu schwanken. Ein gutes Zeichen.

      Teri machte sich Gedanken um die Kraan. Traumverloren auf den leeren Kai schauend, kraulte sie geistesabwesend die Felldecke, das Geschenk Askas. Wie mochte es den Artisten wohl ergehen? Der Lärm in der Stadt war zu einem nichtendenwollenden, tausendstimmigen Schrei der Wut geworden. Er war, als tobe hinter den Häusern des Hafens ein gigantisches Ungeheuer in maßlosem Zorn.

      Teri dachte an den Armreif, den sie aus dem Stroh ihres Lagers für Aska geflochten hatte. Dieser Eine war ihr besonders gut gelungen, und stolz hatte sie ihn der alten Frau zum Abschied überreicht. Ob es den Reif wohl noch gab, oder ob er sich, wie all ihre früheren Werke, schon nach kurzer Zeit wieder in einzelne Halme aufgelöst hatte?

      Angst überkam Teri, wenn sie daran dachte, dass ihre Freundin und Lehrmeisterin irgendwo in dieser brodelnden Masse sein könnte, die auf dem Platz vor dem Tempel tobte und kreischte. Aber die Kraan waren ein kluges Volk. Sicher hatte Aska die drohende Unruhe rechtzeitig erkannt und ihre Gruppe an einen sicheren Ort geführt.

      Plötzlich schwoll der Lärm noch mehr an. Teri schrak aus ihren Betrachtungen auf. Undeutlich sah sie Bewegungen in den schmalen Gassen und auf den Treppen, die in die Stadt führten. Schnelle Schritte und einzelne Rufe drangen durch das fanatische Geheul, das immer näher kam. Unwillkürlich sprang Teri auf und wich einen Schritt zurück.

      Ungeordnet und in offenbar panischer Flucht stürzte ein gutes Hundert der Wachmannschaften auf den Hafenplatz. Hinter ihnen quoll aus allen Gassen eine unglaubliche Menge dunkel gekleideter Gestalten hervor, die in wilder Hast bemüht waren, sich heller gekleideten Angreifern, die ihnen nachsetzten, zu entziehen.

      "Ha! Die Ofisa hatten Waffen im Tempel!", rief der Kapitän aus. "Hab ich's doch gewußt! - Heilig tun sie! - Niemand etwas zuleide tun können sie! Aber ..."

      Jetzt sah auch Teri, dass die Hellgekleideten mit schweren Waffen ausgerüstet waren. Mit Spießen und Keulen, Wurfspeeren und sogar Schwertern stachen und schlugen sie auf ihre Widersacher ein. "Für Ofisa!", brüllten sie jedes Mal, wenn ein Gegner niedergestreckt wurde, wogegen das "Harmuged! - Harmuged!" der Schwarzgekleideten schon lange den Schreien der Angst und der Not gewichen war.

      Zwar blinkten in den Händen der Harmuged-Pilger ebenfalls Waffen. - Aber was waren Dolche und bronzebeschlagene Schlaghölzer schon im Vergleich zu dem Arsenal von blanken Langwaffen, das die Ofisa einsetzten.

      Teri sah, wie einem Mann ein Spieß durch den Hals getrieben wurde und wie ein anderer einen furchtbaren Schwerthieb in den Rücken erhielt. Eine dunkle Gestalt rannte in kopfloser Flucht genau in die Reihen der Gegner hinein.

      Wild aufeinander einschlagend und stechend, wälzte sich die Masse der ineinander verkeilten Leiber auf die Kaimauer zu.

      "Zieht die Laufplanke ein! Macht die Leinen los! Stoßt ab!", kommandierte der Kapitän. Darauf hatten seine Leute nur gewartet. Gleich zu viert rissen sie so stark am Ende der Planke, dass sie krachend auf das Deck flog. Zwei andere waren an Land gesprungen und hoben die schweren Trossen von den Pfählen. Mit großen Sätzen kamen sie mittschiffs wieder an Bord und halfen den anderen Matrosen, die `Sesiol' mit langen Stangen von der Kaimauer wegzudrücken. Kaum zehn Ellen weit war das Löwenboot von der Kaimauer entfernt, als seine Bewegung langsamer wurde und schließlich ganz aufhörte. Das Deck neigte sich ein wenig dem Hafenbecken zu. - Die `Sesiol' war im Schlick steckengeblieben.

      Teri sah, wie auch die Mannschaften der anderen Schiffe versuchten, das freie Wasser des Hafenbeckens zu gewinnen; die meisten hatten aber noch weniger Erfolg. Nur einige sehr kleine Schiffe trieben schon weitab von der Kaimauer in relativer Sicherheit.

      Nun griff auch die Stadtwache, die zuerst vor der alles niedertrampelnden Masse hatte fliehen müssen, in den Kampf ein. War sie ohne die Unterstützung der Ofisa den Harmuged-Pilgern zahlenmäßig weit unterlegen gewesen und hatte sich nicht getraut gegen sie vorzugehen, so schlug sie nun umso heftiger drein.

      Das besiegelte nun das Ende des Harmuged-Aufstands von Isco. - Selbst die fanatischsten Pilger sahen nun ein, dass die Sache verloren war und dass es nur noch um das eigene Überleben ging.

      Eine Gruppe Schwarzgekleideter nach der anderen versuchte, sich heimlich in die Durchgänge zwischen den Häusern zu schieben und vom Kampfplatz zu verschwinden.

      Die Zurückgebliebenen sahen sich alleingelassen und setzten nun ihrerseits zu kopfloser Flucht an. Einer der Männer hielt genau auf die `Sesiol' zu. "Legt ab! Legt ab! - Um Harmugeds Willen, legt ab!", schrie er schon von weitem. Mit einem mächtigen Satz versuchte er das Deck des Löwenbootes zu erreichen, sprang aber zu kurz. Dumpf prallte sein Körper gegen das Schanzkleid der `Sesiol'. Verzweifelt versuchte er sich festzuhalten.

      Sofort sprang der Kapitän mit erhobenen Händen auf den Hilflosen zu. Teri sollte nie erfahren, ob er ihn an Bord ziehen, oder ins Wasser stoßen wollte, denn im selben Moment zischte vom Ufer ein Pfeil heran und durchbohrte den Unglücklichen, aus dessen Mund bei seinem letzten Schrei ein dünner Blutnebel schoß.

      Teri schloß die Augen. Hatte das Gemetzel auf dem Hafenplatz für sie bislang kaum anders ausgesehen, als eine Balgerei der Kinder am Strand von Thedra, so hatte sie hier zum ersten Mal den Tod eines Menschen gesehen. Noch lange verfolgten sie der blutige Schrei und das Aufklatschen des Körpers auf das Wasser in ihren Träumen.

      Wieder drückten die Matrosen mit aller Kraft die Holzstangen gegen die Kaimauer, da kam die `Sesiol' plötzlich frei. Mannschaft und Passagiere jubelten laut. - Zwar war der Kampf der feindlichen Kongregationen schon lange entschieden; nur vereinzelt wehrten sich noch kleine Gruppen der Harmuged-Pilger gegen die Ofisa-Übermacht. Aber nun würde bald die Jagd nach den Entkommenen beginnen. Isco war in der kommenden Nacht mit Sicherheit kein guter Ort für harmlose Reisende.

      Die größeren Schiffe lagen alle noch unbeweglich an der Kaimauer. Die `Sesiol' hatte freie Fahrt. Schon in der Hafenmitte ließ der Kapitän die großen Dreieckssegel setzen. Langsam blieb der Kampfeslärm zurück.

      Zehn Tage war die Sesiol nun schon auf See, und noch immer war der Kapitän es nicht müde geworden, Gerit und jedem anderen, den er erwischen konnte, seine Mutmaßungen über die Vorgänge in Isco zu erläutern.

      Gerit schien das nichts auszumachen. Ganz im Gegenteil. Obwohl er weder den Tempel der sprechenden Höhlen oder die Innenstadt von Isco je gesehen hatte, beteiligte er sich fleißig an den Spekulationen über den Verlauf der Schlacht. Ganze Tage standen er und der Kapitän auf dem Achterdeck und redeten sich die Köpfe heiß. Tana gegenüber behauptete Gerit steif und fest, dass er das nur tue, um die alte Plaudertasche von ihr fernzuhalten; aber jeder, der Augen im Kopf hatte, konnte sehen, welchen Spaß ihm seine Opfergänge machten.

      Tana und Teri verbrachten die meiste Zeit in der Nähe ihrer Kabine. Zu Tanas Erstaunen hatte es bei ihr keine Anzeichen von Seekrankheit gegeben; ihr Körper hatte sich hervorragend an das schaukelnde Stampfen gewöhnt. Immer wieder sang Teri ihrer Stiefmutter die Lieder der Kraan vor, die sie auf dem ersten Teil der Reise gelernt hatte; und wenn die seltsam hypnotische Wirkung der Melodien auch vollständig ausblieb, so waren sie doch schön.

      Teri fand es ein wenig bedauerlich, dass die `Sesiol' nicht so viele Klettermöglichkeiten bot, wie die Kao-lad. Trotzdem stieg sie manchmal die Wanten hinauf, hoch zu der kleinen Plattform am Mast.

      Das Löwenboot fuhr bauartbedingt mit erheblich größerer Schräglage, als der klobige Zweimaster. Es machte Teri Spaß, hinabzuschauen und direkt unter sich die Wellen dahinjagen zu sehen.

      Tana liebte diese Ausflüge ihrer Stieftochter nicht sonderlich, aber sie ließ sie gewähren. Teri war gewandt und kräftig. Außerdem träumte sie schon seit Jahren davon, Scharfrau auf einem der Schwalbenschiffe zu werden. - Warum sollte sie sich nicht schon jetzt einen kleinen Vorgeschmack auf ihr zukünftiges Leben holen?

      Trotzdem ließ Tana das Kind keinen Augenblick lang aus den Augen und war erst wieder beruhigt, wenn Teri sicher auf das Deck der `Sesiol' zurückgekehrt war.

      Oft saß Teri auch in der Runde der Matrosen und hörte sich allerlei Geschichten aus aller