Jo W. Gärtner

Die Sagen von Berandan


Скачать книгу

gesamte Haufen war von einer Heerschar Fliegen bevölkert, die sich um ihren Platz auf dem warmen, stinkenden Hügel zu prügeln schienen. Von dem Haufen sickerte eine bräunlich-gelbliche Flüssigkeit den Weg herunter, die nicht weniger übel roch, und mündete in eine kleine Lache, in der sich das Schwein vom Gerber gegenüber genüsslich suhlte.

      Rimon ging bergauf zu dem kleinen Haus, in dem er mit seiner Familie lebte. Das reetgedeckte Dach bog sich altersschwach und schwer unter dem ihm auferlegten Gewicht. Sie würden die Balken bald erneuern müssen, wenn das Dach nicht einstürzen sollte. Sie, die anderen, nicht er, denn er würde dann nicht mehr hier sein. Verdrossen blieb Rimon vor dem Haus stehen, betrachtete die krumm in den Angeln hängende Türe, die offen stand, die kleinen Fenster, die Bank neben der Tür, auf der er so oft gesessen war und geschnitzt hatte. Eine Wehmut ergriff ihn, zerdrückte ihm beinahe das Herz, dass Rimon für einen Augenblick nicht mehr atmen konnte. Wie sehr würde er all das vermissen, was ihm so lange selbstverständlich erschienen war.

      Langsam ging er auf die Tür zu und trat in das schummrige Innere des Hauses. Die Decke hing tief.

      Er erwartete eintönig schmeckenden Haferbrei. Wie an jedem Abend. Doch zu seiner Überraschung war der Tisch feierlich gedeckt und in der schweren Pfanne über der Feuerstelle brutzelten fettige Fleischstücke. Rimons Vater saß am Kopf des Tisches und erwartete seinen Sohn mit einem freundlichen Blick. Rimon glaubte, auch ein wenig Stolz entdecken zu können, doch sicher war er sich nicht.

      Er solle sich setzen, sagte Thors, Rimons Vater, während er mit der rechten Hand auf einen Stuhl an der Tischseite zeigte, die zur Rückwand des Hauses lag. Als Rimon sich setzte, schob ihm sein Vater einen vollen Krug Bier zu. „Heute ist dein sechzehnter Geburtstag. Du weißt, was dies bedeutet. Neue Pflichten, aber auch neue Rechte.“

      Thors machte eine kleine Pause und lächelte seinem Sohn aufmunternd zu. Auffordernd schob er den schwappenden Krug noch ein wenig näher zu Rimon. Selbstverständlich wusste Rimon, was der sechzehnte Geburtstag bedeutete. Er wusste es, aber er wollte es nicht wissen. Jetzt war er erwachsen. Jetzt durfte er alles, was die Erwachsenen durften. Er musste das Bier nicht mehr heimlich trinken. War das nicht toll? Nein, das war es wahrlich nicht. Rimons Gemüt verdüsterte sich bei dem Gedanken, was dieser Geburtstag noch alles für ihn bedeutete.

      Thors Lächeln verschwand. Er wurde ernst. „Dieser Tag soll aber auch dein letzter in diesem Haus sein. Als Gast wirst du immer willkommen sein, aber hier leben sollst du erst wieder als alter Mann. Du bist jetzt erwachsen – du bist ein freier Mann. Kein Heim soll dich hemmen, dich als nützlich für Berandan zu erweisen.“

      Thors erhob seinen Krug zum Wohle. Rimon zögerte. Er dachte daran, wie häufig er gemeinsam mit seinen Freunden heimlich Bier getrunken hatte. Einmal hatten sie viel zu viel in sich hineingegossen, sodass dass sie nicht mehr recht wussten, wo oben und wo unten war. Nach Hause zu gehen, hatten sie sich in diesem Zustand natürlich nicht mehr getraut. In einem Heuschober außerhalb des Dorfes hatten sie ihren Rausch ausgeschlafen und am nächsten Morgen die wildesten Geschichten über ihr Fernbleiben erdichtet. Dass sie am Abend zuvor im Wald von Gobblins und Wolfsreitern überrascht worden waren und sich gerade noch rechtzeitig auf die Bäume retten hatten können. Hysterie und Panik war dadurch im gesamten Dorf ausgebrochen. Die Männer hatten sich bewaffnet und waren tage- und nächtelang durch die Wälder gezogen, um die Eindringlinge erbarmungslos zu jagen; die Frauen hatten Türen und Fenster verbarrikadiert und die Alten von vergangenen Zeiten erzählt, als sie sich – wie sie sagten – des Öfteren gegen alle möglichen dunklen Gestalten wehren mussten. Natürlich war die Jagd umsonst gewesen, aber niemand hatte die Jungen verdächtigt, zu ernst wurde die Gefahr genommen.

      Nun also war Rimon sechzehn Jahre alt und er musste sich nie wieder verstecken, sollte er einmal zu tief ins Glas schauen. Doch mit dem Verbot verschwanden auch die kleinen abenteuerlichen Geschichten, an die sich er und seine Freunde so gerne erinnerten.

      Schon lange hatte er sich vor diesem Tag gefürchtet. In Wiesenau lebten all seine Freunde und er war von allen der Älteste. Nun musste er gehen, während all die anderen zunächst hier bleiben durften. Aber er wollte mit seinen Freunden durch die Wiesen und Felder ziehen, kleine und nicht gefährliche Abenteuer bestehen und die Erwachsenen mit Schabernack in die Verzweiflung treiben. Doch nun war er selbst einer dieser Erwachsenen, zu denen er nie gehören wollte.

      Thors blickte seinen Sohn erwartungsvoll an. Noch immer hatte er den gefüllten Krug erhoben und wartete, bis Rimon ebenfalls seinen Krug in die Hand nahm, damit sie – Vater und Sohn – auf das zukünftige Leben Rimons anstoßen konnten.

      Rimon schaute den Krug lange an, das auf- und niederschwappende kühle Nass darin, das Erwachsensein. Dahinter verschwommen die Erinnerungen an all die Raufereien, Spiele und Abenteuer, an all die Geschichten und Scherze, die seine Kindheit so wunderbar und schön werden ließen. Nun war dies endgültig vorbei.

      Vorsichtig blickte er zu seinem Vater auf. Stolz und aufrecht saß Thors da. Für ihn bedeutete der sechzehnte Geburtstag den Aufbruch in die große weite Welt, war Kampf für den König, hieß Aufstieg zum Ritter und unerschütterlichen Krieger, zu dem blassgesichtige und picklige Knabengesichter bewundernd aufschauten.

      Doch für Rimon war dieser Tag Abschied von einer vertrauten, heimischen Welt und Aufbruch in einer unsichere und gefährliche Zukunft.

      Der klare Blick seines Vaters zeigte ihm, dass es keine Widerworte gab. Rimon musste gehen und doch, er wollte nicht. Für nichts auf der Welt wollte er Wiesenau verlassen. Die flachen Hügel, die weiten Wiesen mit den kleinen, plätschernden Bächen dazwischen, die lichtdurchfluteten Waldränder, hinter denen tiefer, undurchdringlicher Wald lag, um den sich Mythen und Geheimnisse rankten. Nie würde er dieses Stückchen heile Welt verlassen. Da müsste ihn sein Vater schon dazu zwingen. Aber er, Rimon, würde dem Willen seines Vaters trotzen, sich nicht der Tradition, der er sowieso nichts abgewinnen konnte, beugen. Nein!

      Aber hatte er überhaupt das Recht dazu, sich dem Willen seines Vaters zu widersetzen? Kein Sechzehnjähriger stellte sich gegen den eigenen Vater. Nie würde Thors nachgeben und sich dafür im „Polternden Krug“ auslachen lassen. Es würde sein Ansehen ruinieren. Wahrscheinlich würde er seinen Sohn sogar mit Gewalt aus dem Haus treiben.

      Aber dennoch war heute an diesem Tisch die letzte Möglichkeit, dem Schicksal noch eine andere Wendung zu geben.

      Worte und Widerworte kämpften in Rimon, rangen unermüdlich, weder das Herz noch der Verstand wollten freiwillig das Feld räumen. So schlugen in Rimons Kopf Gedanken wie wild aufeinander ein, bis die Worte aus ihm herausplatzten: „Vater, ich möchte überhaupt nicht von Wiesenau wegziehen. Ich bin glücklich hier und nirgends anders!“

      Stille. Unerträgliche Stille. Dumpf dröhnte sie in Rimons Ohren. Die Ungläubigkeit in Thors Augen wich zunächst Entsetzen und schließlich der Wut. Doch Thors sagte nichts. Die Lippen zitterten verkrampft, als sammle sich hinter ihnen ein wilder Fluch, der nur darauf wartete, freigelassen zu werden. Aber noch immer herrschte Stille, die Rimon den Kopf zerplatzen lassen wollte.

      Warum hatte er das auch gesagt? Welch ein Esel war er doch! Er konnte sich sicher sein, dass er nicht den geringsten Erfolg haben würde. Mit seiner Mutter hatte er oft über den verhängnisvollen sechzehnten Geburtstag gesprochen. Sie hatte ihn verstanden. Aber sie hatte ihm auch deutlich gemacht, dass Thors einen Sohn haben wollte, der in die weite Welt hinauszieht, der Abenteuer erlebt und der irgendwann als ruhmvoller Kämpfer ins Dorf zurückkehren würde.

      In Berandan war es seit Menschengedenken so Brauch, und wer sich dieser Tradition verweigerte, wurde nicht als Mann, sondern lediglich als Nichtsnutz und Versager betrachtet. Höchstens der Sohn des Wirtes durfte bleiben – von ihm erhofften sich die alten Männer eines jeden Dorfes noch viel Gutes für sich selbst.

      Rimons Vater setzte seinen Bierkrug mit einem dumpfen Krachen auf dem robusten Holztisch ab. Seine grünen Augen, die Rimon noch vor einem kleinen Moment freundlich und stolz angeblickt hatten, verengten sich nun zu kleinen Schlitzen und funkelten böse. Wütende Blicke, die Rimon entgegen blitzten, denen er nicht standhalten konnte. Unsicher schaute er nach unten, in seinen Schoß, in dem seine Hände verkrampft ineinander geballt waren.

      Er