Jo W. Gärtner

Die Sagen von Berandan


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Dolch zu finden erhoffte. Doch die Decke war zu fest um seine Beine gewickelt, so dass er aufstehen, aber nicht gehen konnte. Mit einem lauten Schrei fiel er der Länge nach auf die Nase. Er fluchte. Wieder hörte er das Krächzen. Nun noch bedrohlicher. Schnell rappelte er sich wieder auf. Die Beine konnten sich aus der Decke befreien, Rimon sprang zu der Satteltasche, suchte kurz, bis er den Dolch fand, zog ihn aus der Scheide und stellte sich damit neben das Feuer. Mit dem Mut der Verzweiflung schrie er in die Nacht, den Bäumen entgegen: „Wer auch immer du bist, komm nur. Jetzt bin ich bereit. Ich habe keine Angst vor dir!“

      Doch die keuchende Stimme und die Schweißperlen auf der Stirn verrieten das Gegenteil. Das Krächzen war verstummt. Stattdessen begann nun ein lautes, schallendes Gelächter. Gelächter einer jungen Frauenstimme. Rimon runzelte irritiert die Stirn und machte einen Schritt rückwärts. Ein Schatten bewegte sich zwischen den Bäumen und hervor trat – Tama. Sie lachte so heftig, dass sich kleine Tränen in ihren Augen sammelten. Über ihr Haar hatte sie ein rotes Kopftuch gezogen, das ebenso wie das dreckige Kleid völlig durchnässt war. Sie hatte keine Schuhe an, ihre Füße waren nass und dreckig. In der Armbeuge ihres linken Armes hatte sie einen Korb eingehängt, über dessen Inhalt ein großes Tuch gebreitet war.

      Rimon traute seinen Augen nicht. Mit offenem Mund stand er da, die rechte Hand mit dem Dolch hing schlaff an der Seite des Körpers. Mit der linken Hand rieb er sich die Augen, so, als verstünde er nach wie vor nicht, wer da plötzlich vor ihm stand.

      „Du...? Was machst du denn hier?“, stammelte er. „Wie hast du mich gefunden und warum bist du mir überhaupt gefolgt?“

      Rimon glotzte seine Schwester, die noch immer lachte, aus großen Augen an. Aufgeregt wippte ihr Brustkorb auf und nieder.

      „Nun setze dich doch erst. Dann erzähle ich dir alles. Ich habe dir übrigens etwas mitgebracht“, sagte sie und deutete mit einem geheimnisvollen Blick auf den verdeckten Korb.

      Als sie sich neben das Feuer gesetzt hatten, zog Tama einen großen Schinken, einen Laib Brot und einen mit Wasser gefüllten Schlauch aus ihrem Korb. Rimon glotzte nun noch mehr, dass ihm beinahe die Augäpfel aus den Höhlen gepurzelt wären.

      „Was...?“, stammelte er, doch Tama fiel ihm ins Wort.

      „Wie ich dich kenne, wärst du innerhalb der nächsten Tage verhungert. Wahrscheinlich hättest du sogar die passende Ausrede dafür parat.“

      Rimon wollte protestieren, aber Tama ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Vielleicht hätte der Eber, an den du dich kunstvoll herangeschlichen hast, magische Fähigkeiten und hätte dich entdeckt, obwohl er dies bei deinem geschmeidigen Schleichen überhaupt nicht können dürfte!“

      Sie lächelte, vielleicht etwas spöttisch, doch eigentlich voller Zuneigung für ihren älteren Bruder, dem sie nun überlegen war. „Vielleicht aber“, fuhr sie fort, „hätte auch ein urplötzlicher Donnerschlag, der im wahrsten Sinne des Wortes aus heiterem Himmel gekommen war, die schon sicher geglaubte Beute vertrieben oder aber...“, Tama hob ihre Stimme bedeutungsvoll an, „... ein fremdes Mädchen wäre plötzlich mit lautem Schrei auf den Eber zugerannt und wollte mit ihm spielen!“

      Nun konnte Tama ihre gespielte Ernsthaftigkeit nicht länger aufrecht­erhalten und musste lachen. Sie hob sich den Bauch und konnte und konnte nicht mehr aufhören.

      „Das war damals tatsächlich so. Ich schwöre bei Erdan, dass es wahr ist!“, protestierte Rimon. „Außerdem habe ich einen Auerhahn und keinen Eber gejagt. Welches Mädchen würde denn mit einem wilden Eber spielen wollen?“

      Tama grinste ihn vielsagend an und schob ihm den Korb zu. Rimon schwieg und griff zögernd hinein. Sein Heißhunger trieb ihn an, alles augenblicklich zu verschlingen, doch diese Blöße konnte er sich vor seiner Schwester nicht geben.

      „Interessiert es dich denn gar nicht, woher ich das alles habe?“, fragte Tama.

      Rimon blickte auf. Ein Fetzen des Schinkens hing an seinem Mundwinkel. „Hmm?“, grunzte er.

      „Ich habe es aus dem „Polternden Krug“ gestohlen!“, verkündete die kleine Tama stolz.

      „Bist du verrückt, Tama!? Gestohlen? Aber… Du bist doch erst zwölf Jahre alt! Wie kannst du da schon stehlen? Und dann auch noch bei Krigor, unserem alten Wirt!?“ Rimon wurde wütend. Das Essen wollte ihm plötzlich nicht mehr schmecken, war es auch noch so lecker.

      Tama setzte den Kopf schief und schaute ihren Bruder skeptisch an. „Du redest schon wie ein Erwachsener. Vor kurzem hättest du dich noch über so etwas gefreut. Schließlich haben wir Krigor immer geärgert. Er war nie freundlich zu uns Kindern. Immer, wenn wir in der Nähe seines Hauses gespielt hatten, kam er mit seinem dicken Holzstock und hat uns damit verjagt. Hast du das etwa bereits vergessen?“

      „Nein, das habe ich nicht“, antwortete Rimon, „aber dennoch ist es nicht in Ordnung, wenn man anderen etwas stiehlt. Das weißt du so gut wie ich.“

      Tama schwieg. Dann meinte sie: „Vielleicht hast du recht. Dennoch wollte ich dir helfen. Ich weiß doch, dass du das alles hier nicht gerne machst. Also will ich für dich da sein!“

      Rimon lächelte gezwungen. So sehr er sich über Tamas Anwesenheit freute, so unangenehm war ihm ihre Hilfe. „Wie hast du mich eigentlich gefunden? Es ist finster und in der Dunkelheit sieht man seine eigene Hand nicht vor den Augen. Woher weißt du, wo ich in den Wald abgebogen bin?“

      Tama hatte den Kopf noch immer schief gelegt, schaute nun aber nicht mehr skeptisch, sondern nur noch ungläubig. „Du fragst mich tatsächlich, wie ich dich gefunden habe? Rimon, selbst ein Blinder hätte deine Spur gefunden! In der Erde sind die Abdrücke von Yaris sehr deutlich zu erkennen. Auch der Regen konnte die Spuren in dieser kurzen Zeit nicht wegspülen. Überall hast du Äste abgeknickt und das Feuer kann man selbst aus großer Entfernung erkennen. Wenn du mir jetzt erzählen willst, dass du deine Spuren auch noch verwischen wolltest, dann bist du der schlechteste Spurenverwischer, den ich kenne.“

      „Nein, ich wollte meine Spuren nicht verwischen. Ich habe mich nur gewundert, dass du mich so einfach gefunden hast.“

      „Das war wirklich kein Problem“, sagte Tama und blickte ihren Bruder belustigt an. „Ich muss jetzt wieder los, bevor Vater mich zu Hause vermisst und nach mir sucht. Morgen kann ich wieder vorbeikommen, wenn du willst.“

      Tama stand auf und wandte sich zum Gehen. Als sie die Bäume erreicht hatte, drehte sie sich nochmals um und meinte mit leiser Stimme: „Übrigens ist Mutter heute schwer krank geworden, nachdem du gegangen warst. Sie liegt im Bett, ist völlig blass und redet ständig wirre Dinge.“

      Rimon sprang auf. „Was sagst du da? Sie ist krank? Wegen mir?“ Er grübelte nur kurz, dann ging er zu Yaris und sagte: „Ich muss zurück zu ihr. Ich kann nicht zulassen, dass sie krank im Bett liegt und ich schuld daran bin!“

      „Nein, Rimon, bleib hier. Du bist nicht schuld daran. Mutter wird schon wieder, da bin ich mir sicher. Immerhin sitzt Vater ständig an ihrem Bett, hält ihr die Hand und wischt ihr den Schweiß von der Stirn. Vielleicht hat alles etwas Gutes. Wer weiß. Mach dir keine Sorgen, Rimon. Ich muss gehen. Bis morgen.“

      Damit verschwand sie zwischen den Bäumen im Dunkel. Rimon blieb allein zurück. Erschöpft ließ er sich neben dem Feuer niederfallen. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Doch einer kam immer wieder, er war lauter als die anderen, stärker. Rimon fühlte sich schlecht. Miserabel. Feige. Nichtsnutzig.

      Beinahe war es irrwitzig. Da kam seine Schwester, gerade einmal zwölf Jahre alt, von der Welt und ihren Gefahren keine Ahnung, einfach vorbeispaziert, als würde sie diesen Weg ständig gehen, als wäre es ein Spaziergang. Sie hatte ihn ohne ein erkennbares Problem gefunden. Auch wenn Rimon seine Spur nicht verstecken wollte, war es ihm doch sehr unangenehm, dass sogar ein unerfahrenes, junges Mädchen ihn dermaßen leicht auffinden konnte. Dann brachte sie ihm einen großen Korb mit reichhaltigem Essen mit, weil sie ihrem großen Bruder nicht zutraute, dass er sich selbstständig ernähren konnte. Welch eine unerträgliche Schande! Und das Schlimmste dabei war, dass sie wahrscheinlich sogar Recht hatte. Dann marschierte sie auch noch durch Nacht