Jo W. Gärtner

Die Sagen von Berandan


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hatte Rimon seinen Lagerplatz erreicht. Er war erleichtert, denn aus irgendwelchen Gründen fühlte er sich hier sicherer. Die Feuerstelle war wie ein Schutz gegen den unheimlichen Wald, inmitten dessen er sich befand. Doch als Rimon an die Feuerstelle trat, stockte ihm erneut der Atem. Jedes sichere Gefühl war mit einem Mal wie weggeblasen. Noch eben hatte er sich einigermaßen gut gefühlt, doch was er jetzt sah, verwirrte ihn völlig. Und da war sie wieder – die Angst. Nur stärker und drückender als die Male zuvor.

      Der Stein in der Mitte der Feuerstelle war von jeglichem Unrat gesäubert. Weder Kohle noch Asche lagen mehr darauf. Die Platte schien fein säuberlich gefegt worden zu sein. Doch was in Rimon einen Schauer hervorrief, war das Blut, das nun auf dem Stein verspritzt war. Rotes, dunkelrotes Blut. Alle Farbe wich ihm aus dem Gesicht. Kreidebleich stand er da und starrte und starrte und …

      Was ging hier nur vor?

      * * * * *

      Am selben Abend kam Tama erneut mit einem Korb voller Brot, Obst und Fleisch. Rimon schlug sich damit den Magen voll. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Seine Schwester nahm ihm die Geschichte sogar ab. Keine übliche Ausrede. Sie war zwar ohne Schwierigkeiten zu dem Lagerplatz gekommen, doch die Feuerstelle ließ sie ebenfalls glauben, dass merkwürdige Dinge hier im tiefen Wald vor sich gingen. Sie sprach ihm Mut zu und verschwand bald wieder in der Dunkelheit. Rimon machte sich keine Sorgen um sie. Sie würde den Weg sicher nach Hause zurückfinden. Tamas Unbekümmertheit würde sie beschützen.

      Doch er machte sich Sorgen um sich selbst. Die Angst, die sich ganz tief in ihm eingenistet hatte, ließ sich nicht mehr vertreiben. Sie war da und sie war mächtig.

      Trotz aller Bedenken machte er sich in der Feuerstelle ein neues Feuer, trug Holz heran, zündete es an, schon bald erinnerte nichts mehr an die Säuberung und das Blut. Das beruhigte ihn ein wenig. Und das Feuer bot immerhin Schutz vor wilden Tieren.

      Yaris wieherte und scheute ein wenig. Unruhig trat er auf den Hufen. Rimon fuhr hoch und zog seinen Dolch, den er seit der letzten Nacht unaufhörlich bei sich trug. Nichts war zu hören und zu sehen.

      Stille. Erdrückende Stille. Wieder fühlte sich Rimon beobachtet. War es nur Einbildung oder ruhten tatsächlich Blicke auf ihm? Oh ja, er war sich ganz sicher. Und sie lagen schwer auf ihm. Die Angst fraß sich gierig in sein Herz. Er würde wieder nach Hause reiten, sich als Feigling beschimpfen lassen, und was den Leuten sonst noch an Schmähungen einfallen würde. Aber dann hätte er zumindest seinen Frieden und müsste nicht ständig in Angst leben.

      Doch dann stand Yaris wieder völlig still. Die Nüstern blähten sich nochmals auf, so als schnuppere er nach etwas Fremdem in der kühlen Nachtluft, doch nichts schien das Pferd mehr zu beunruhigen. War gar Yaris zu nervös? War es nicht er, sondern sein Pferd, das ihn durch sein nervöses Wiehern schaudern ließ? Ein angenehmer Gedanke, dem Rimon jedoch kein Gehör schenkte. Nein, dieses Pferd wäre nicht so leicht aus der Fassung zu bringen.

      Nachdem er noch lange am Feuer gesessen hatte und bei jedem Geräusch zusammengeschreckt war, fiel er in einen leichten und unruhigen Schlaf. Außer einem Blitz, der am entfernten Rand des Waldes in einen hohen Baum einschlug, geschah nichts in dieser sternlosen und dunklen Nacht.

      * * * * *

      Rimon hatte sich vorgenommen, die nähere Umgebung seines Lagerplatzes genauestens zu untersuchen. Wenn in der Nacht jemand hier gewesen war, ihm würde es auffallen. Zunächst versuchte er, die Spuren, die er am Vortag entdeckt hatte, jenseits der Steine, auf denen sie sie verloren hatten, wiederzufinden. Vergebens. Dann untersuchte er die Bäume, die um den Platz herumstanden, nach verdächtigen Spuren. Wenn jemand hinaufgeklettert wäre, müsste er am Stamm etwas entdecken können. Nichts. Schließlich suchte er nach abgebrochenen Ästchen, Fußspuren und Handabdrücken. Hoffnungslos.

      Er wollte schon die Suche aufgeben, als er leises Gemurmel hörte. Es kam von irgendwo hinter dichtem Dornengestrüpp her und verlor sich fast im leichten Wind, der am Morgen aufgekommen, unten am Waldboden jedoch kaum zu spüren war. Rimon kroch durch das Gestrüpp und musste immer wieder schmerzhaften Kontakt mit den dornenbewehrten Ästen machen. Auf der anderen Seite fiel das Gelände leicht ab, um wenige Meter später wieder anzusteigen. Der Anstieg war nur mit wenigen Bäumen bewachsen, stattdessen wuchsen viele Sträucher eng an eng und schienen niemanden durchlassen zu wollen.

      Unterhalb dieses Gestrüpps kniete jemand am Boden. Es musste ein Mensch sein. Aber Rimon war sich nicht sicher. Es könnte genauso gut auch ein Gobblin oder ein anderes Wesen sein. Es hatte braune Lederhosen an, die abgenutzt und von Wind und Wetter gegerbt waren. Darunter waren leichte Stiefel aus feinem, aber ebenso abgenutztem Leder zu entdecken. Die Person trug einen weiten grün-gräulichen Mantel aus grobem Stoff, der sie beinahe ganz bedeckte. Mehr konnte Rimon nicht entdecken. Das Wesen reckte ihm sein Hinterteil entgegen, und der Kopf war verschwunden. Er steckte bis zu den Schultern in einem Loch, das dort, unterhalb der dichten Sträucher, in den Boden gegraben war.

      Leise und undeutlich hörte man den Mann oder das Wesen oder was auch immer es war flüstern. Rimon wollte näher herankriechen, doch er wusste, dass er dann die schützende Deckung des Gebüsches verlassen würde.

      Angestrengt versuchte er, die Laute zu verstehen, doch der Wind wehte sie davon, so dass er sie nicht fassen konnte. Was ging hier in diesem dunklen, dichten Wald nur vor? Vorsichtig kroch Rimon etwas auf dem feucht riechenden, moosigen Boden nach vorne. Eine Dorne verhakte sich dabei in seinem Unterarm, woraufhin seinen Lippen ein leiser Schmerzensschrei entfuhr, den er jedoch sofort unterdrückte. Doch das Wesen in dem Loch schien etwas gehört zu haben. Das Gemurmel brach ab und die Person schnellte aus dem Erdloch heraus. Rimon presste sein Gesicht in die feuchte, kühle Erde. Wie erstarrt lag er in seinem Versteck und wagte nicht, sich zu rühren. Kein Glied bewegte er. Sein Atem ging flach. Er schmeckte Erdkrümel zwischen seinen Lippen. Wenn das Erdlochwesen in meiner Richtung sucht, so bin ich verloren. Ich habe keine Chance, schoss es ihm durch den Kopf. Doch der Körper blieb starr, ließ ihm keine Möglichkeit zur Flucht. Wohl wäre dies auch nicht von Vorteil gewesen, hätte er doch mit jeder Bewegung die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. So lag er flach gepresst auf der Erde, er wusste nicht, wie lange. Irgendwann, nachdem niemand nach ihm zu suchen schien, hob Rimon langsam wieder den Kopf – vorsichtig – Zentimeter um Zentimeter. Als er den Kopf so weit gehoben hatte, dass er das Erdloch wieder im Blick hatte, atmete er erleichtert auf. Das Wesen hatte den Kopf wieder in das Erdloch gesteckt. Auch das Gemurmel war wieder hörbar. Kurz überlegte Rimon, ob er die Möglichkeit nutzen sollte und mit gezücktem Dolch auf das Loch zupreschen und das Wesen aus diesem herausziehen sollte. Doch im selben Moment verbannte er diesen Gedanken aus seinem Kopf. Nichts und niemand hätte ihn dazu bewegen können, sich dieser Gefahr zu stellen. Töricht wäre er gewesen, sein Schicksal in einem Kampf mit einem Wesen zu suchen, bei dem er nicht einmal wusste, ob es überhaupt ein Mensch war. Wer wusste schon, welche Gestalten sich hier in diesem Wald herumtrieben.

      Langsam kroch Rimon zurück, ließ das Gebüsch hinter sich, sprang auf dem Rückweg von Stein zu Stein, um keine Spuren in der weichen Erde zu hinterlassen und kam rasch und sicher in sein Lager zurück.

      Hier fühlte er sich wieder sicher. Die Blicke, die ihm gefolgt waren, spürte er nicht.

      * * * * *

      Rimon hatte den ganzen Tag über nur einmal das Lager verlassen, um Beeren zu sammeln. Er hätte jagen können, doch wollte er kein Feuer machen, über dem er das Wild hätte braten müssen. Mehrmals schritt er den Rand der kleinen Lichtung ab, überprüfte jeden Baum und jeden Stein, aber er konnte nirgends Spuren oder etwas anderes Verdächtiges finden. Die meiste Zeit saß er an einen großen Baum gelehnt, dessen dicke Wurzeln weit ausluden. Zwei Wurzeln hatten einen solch perfekten Abstand, dass sich Rimon zwischen sie setzen und sie als Armlehnen benutzen konnte. So saß er an dem mächtigen Baum, der wohl schon hier stand, als das kleine Dorf, in dem er geboren wurde, noch lange nicht existiert hatte. Die Arme hatte er auf den Wurzellehnen ausgestreckt, die Augen halb geschlossen, obwohl er hellwach die Umgebung beobachtete.

      Er ließ seine Gedanken schweifen, dachte an die Zeit, die ihm nun bevorstand, dachte an seine Freunde, an Tama, an die Geschehnisse hier im Wald, ja, er dachte sogar an Erdan, den