Jo W. Gärtner

Die Sagen von Berandan


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als dieses unheimliche Krächzen zwischen den Bäumen zu hören war. Ja, er hatte sogar Angst, als es zu regnen und zu stürmen begann. Wie sollte er große Abenteuer bestehen, wenn er bei solch einer Kleinigkeit bereits verzagte?

      Und schließlich kam noch die Sache mit seiner Mutter hinzu. Sie lag krank im Bett, weil er sie im Stich gelassen hatte. Er hätte nicht gehen dürfen. Aber seine Schwester hatte wahrscheinlich Recht. Nun gab es kein Zurück mehr. Jarla musste damit zurechtkommen. Und vielleicht, ja vielleicht brachte es tatsächlich etwas Gutes mit sich, wenn Thors nun an Jarlas Bett saß und sich um seine Frau kümmerte.

      Die Ermutigungen, die er sich selbst zusprach, halfen nur zu einem kleinen Teil. Er fühlte sich dennoch schuldig an Jarlas Krankheit. Aber was weitaus schlimmer wog, war die Tatsache, dass seine Schwester ihn dermaßen gedemütigt hatte.

      * * * * *

      Rimon schlief sehr unruhig. Mitten in der Nacht meinte er, dass ein Tier oder irgendein anderes Wesen an ihm herumzupfte, aber als er sich aufsetzte, konnte er im Schein der letzten Glut nichts erkennen.

      Als er erwachte, war es kalt geworden. Rimon fror. Zunächst entfachte er das Feuer erneut und ging dann an einen nahe gelegenen Bach, um Wasser zu holen. Er wusch sie und genoss die eisige Kälte in seinem Gesicht. Sie brachte neues Leben in seinen steifen Körper.

      Nebel hing schwer zwischen den Bäumen. Der Boden war feucht und weich. Irgendwo klopfte ein Specht. Rimon trottete zur Lagerstelle zurück. Als er wieder auf die Lichtung trat, zuckte er zusammen.

      Da, direkt neben der Stelle, an der er geschlafen hatte. Sie waren schwach, aber dennoch deutlich zu erkennen. Dann hatte er also doch recht gehabt! Rimons Herz schlug schneller. Er ging in die Knie und fuhr mit dem Finger die winzigen Fußspuren, die er entdeckt hatte, entlang. Die Eindrücke waren nicht besonders tief. Das Tier konnte nicht allzu schwer gewesen sein. Doch die Spuren kamen ihm nicht bekannt vor. Kein Tier setzte solche Abdrücke in die Erde. Die Abdrücke waren eher die... eher die eines Menschen. Hinten ein etwas tieferer Eindruck von der Ferse und vorne die fünf Zehen. Obwohl – nein – das waren nicht fünf, der Abdruck hatte nur vier Zehen. Was konnte das nur sein?

      Rimon blickte sich um. Nirgends sonst waren Anzeichen zu sehen, dass jemand in der Nähe gewesen war. Die Spuren führten bis zu einem Baum, um ihn herum, doch dahinter lagen kleinere und größere Steine, auf denen sich die Spur verlor.

      Rimon wurde unbehaglich. Er fühlte sich plötzlich beobachtet. Da – ein Knacken! Rimon fuhr herum. Ein Vogel schreckte auf und flog zwitschernd davon.

      „Ruhig, Rimon, ruhig!“, redete er sich zu. „Du hast Spuren von einem unbekannten Tier entdeckt. Aber es hat dir in der Nacht nichts getan, warum sollte es dir nun etwas Böses wollen? Nur die Ruhe.“

      Er wärmte sich kurz am Feuer, löschte es dann mit Erde, die er darüber warf, sattelte Yaris, schwang sich auf sein Pferd und ritt davon. Er musste etwas zu essen finden. Schließlich konnte er nicht dasitzen und darauf warten, dass seine kleine Schwester mit einem Korb Leckereien vorbeischauen würde.

      Weit reiten konnte er nicht. Das Unterholz wurde so dicht, dass er bald absteigen und Yaris zurücklassen musste. Bewaffnet mit seinem Bogen schlug er sich weiter durch das immer dichter werdende Gestrüpp. Umso tiefer er in den Wald drang, desto näher rückten die Bäume aneinander. Langsam wurde es dunkel. Die Bäume ließen keinen Sonnen­strahl, der das Herz ein wenig ermutig hätte, hindurch. Ein Uhu kauzte und weit in der Ferne heulte in Wolf. Rimons Herz klopfte schwer in seiner Brust, aber das Heulen war tatsächlich weit entfernt. Er musste sich deswegen keine Sorgen machen.

      Als er gerade ein altes, ausgetrocknetes Bachbett durchquerte und an der anderen Seite die felsige und glitschige Wand emporkletterte, fühlte er es ganz genau. Eisig lief es ihm den Rücken hinunter. Jemand beobachtete ihn. Rimon spürte die Blicke, die auf ihm lasteten. Hastig kletterte er die Felsen hinauf. Als er oben angekommen war, drehte er sich blitzschnell um und blickte auf die andere Seite der Mulde hinüber. Gerade noch konnte er einen Schatten erkennen, der sich hinter einem Baum versteckte.

      Dann herrschte Stille. Nur irgendwo oben in den Baumwipfeln krächzte ein Vogel mit unsäglich hässlicher Stimme.

      Jemand stand dort, keine zwanzig Meter von ihm entfernt, hinter einem dicken Baum, dessen Stamm über und über mit Moos bewachsen war. Wer konnte das sein? Wer folgte ihm? Oder ist dieser Schatten ihm überhaupt nicht gefolgt und hier nur zufällig auf ihn getroffen? Aber wer trieb sich hier herum? Hier, wo es beinahe kein Durchkommen gab.

      Rimon ging vorsichtig einige Schritte rückwärts, den Baum, der den Schatten verbarg, stets im Blick. Schließlich erreichte auch er einen Baum, hinter dem er sich verstecken konnte. So verging eine Weile. Rimon stand hinter seinem Baum und schaute hinüber zu dem anderen Baum, hinter dem sich nach wie vor nichts bewegte. Sollte er sich geirrt haben?

      Warten.

      Reglos.

      Stille.

      Nichts geschah.

      Doch dann ging alles ganz schnell.

      Er hörte ein lautes Wiehern. Yaris! Nochmals ein Wiehern. Ein scheuendes, nervöses. Yaris war in Gefahr! Ohne sich um den Schatten auf der anderen Seite des ausgetrockneten Bachbettes zu kümmern, rannte Rimon hinter seinem Baum hervor, kletterte die Felsen in den Graben hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf. Vor dem dicken alten Baum machte er Halt. Langsam schlich er heran und sprang mit einem lauten Schrei über eine dicke Wurzel auf die andere Seite des Baumes – doch niemand stand mehr dort. Deutlich waren die Abdrücke von Händen im Moos am Baumstamm zu entdecken. Er hatte sich also nicht geirrt. Jemand hatte ihn tatsächlich beobachtet.

      Erneut wieherte Yaris und riss Rimon aus seinen Gedanken. Er rannte los, sprang über Wurzeln und kleine Gräben, Äste schlugen ihm ins Gesicht und rissen blutige Kratzer in seine Arme. Die Bäume schienen enger zu stehen. Als wären sie aneinander gerückt. Sein rechter Fuß verhakte sich in einer Wurzel, er fiel und stieß mit dem Kopf hart auf einen Stein. Das letzte, an das er denken konnte, war Yaris.

      * * * * *

      Nässe drang durch Schuhe, Hose, Hemd. Rimon kam nur langsam zu sich. Benommen schaute er sich um. Vor ihm Gestrüpp, neben ihm Gestrüpp, unter seinem Kopf ein Stein, auf dem Blut klebte. Sein Blut. Vorsichtig tastete er an seine Stirn. Ein heftiger Schmerz durchfuhr ihn, als er in die Wunde langte. Rimon versuchte, sich zu erinnern, was passiert war. Stück für Stück setzte sich wieder zusammen.

      Yaris!

      Er wollte Yaris retten!

      Irgendwer war bei ihm gewesen, ansonsten würde er nicht wiehern – nicht so laut und erschreckt.

      Rimon erhob sich, der Schmerz an der Stirn pochte unaufhörlich. Wie trunken taumelte er vorwärts, streifte einen Busch, stolperte gegen einen Baum und fiel mehrmals über Steine und Wurzeln.

      Als er an einen kleinen Bach kam – es musste derselbe Bach sein, an dem er bereits am Morgen gewesen war –, kniete er sich nieder und wusch mit dem klaren Wasser seine Wunde aus. Eiskalt war es, doch es tat gut. Neue Kraft durchströmte ihn. Er stand auf und ging weiter, bis die Bäume wieder etwas auseinandertraten und der Weg leichter wurde. Als er an die Stelle kam, an der er Yaris zurückgelassen hatte, konnte er seinen Augen nicht glauben. Yaris stand friedlich da, fraß genüsslich Blätter von einem Busch und schnaubte fröhlich, als er Rimon kommen sah. Rimon verstand allmählich gar nichts mehr. Spuren von unbekannten Wesen, ein Schatten, der ihn beobachtete, Yaris, den er entführt glaubte und der jetzt hier vor ihm stand, als wäre nichts, aber auch rein gar nichts geschehen.

      Er stürzte seinem Pferd um den Hals und tätschelte es so lange, bis es Yaris offenbar zu viel wurde und er sich wiehernd und Kopf schüttelnd aus dem Griff des Glücklichen befreite. Erleichtert, aber vollständig verwirrt, ritt Rimon an seinen Lagerplatz zurück. Beute hatte er keine gemacht, aber wenn er diese Geschichte seiner Schwester erzählte, würde sie ihn herzlich, aber bestimmt auslachen. Der Gedanken an seine Schwester ließ ihn zittern. Er wusste nicht, wer oder was sich in diesem Wald herumtrieb, und Tama würde sich am Abend erneut auf den Weg zu ihm machen. Er musste