Jo W. Gärtner

Die Sagen von Berandan


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durch das Dorf ging, vorbei an einfacheren und wohlhabenderen Häusern, vorbei an dem Gasthaus, in dem ihrer Mutter nur Ablehnung gegenüber gebracht wurde, spürte sie die Blicke der Bewohner fest auf sich ruhen. Nur wenige befanden sich auf der Straße. Die Menschen blieben stehen, warfen ihr Blicke zu – hämische, bösartige; aber auch mitleidige, traurige? Yolanda wusste es nicht. Sie spürte aber die Blicke all der anderen, die hinter ihren Fenstern standen und neugierig verstohlen das Mädchen beäugten.

      „Ich verachte euch alle“, Yolanda fluchte innerlich. „Ich verfluche euch – alle.“ Und dann brach es aus ihr heraus. Wie wild drehte sie sich im Kreis und schrie in alle Richtungen: „Ich verfluche euch! Ich verfluche euch alle!“

      Ohne sich noch einmal umzudrehen, rannte sie los, rannte bis zu ihrer kleinen Hütte, zog das weiße Kleid aus, die Hosen und das Hemd an, packte ihre Sachen. Mit einem dumpfen Knall schlug sie die Holztür des Hauses hinter sich zu, warf sich die Tasche mit ihren Habseligkeiten über die Schulter und rannte los, die staubige Landstraße entlang, hin zu dem Wald, in dem sie sich Frieden vor all diesen Menschen hier erhoffte. Nie wieder wollte sie einen Fuß in dieses verfluchte Dorf setzen! Nie wieder!

      * * * * *

      Es war dunkel, als er die Augen aufschlug. Der Kopf schmerzte. Grüne Augen. Rote Pupillen. Wie ein böser Traum kam die Erinnerung an die Verfolgung langsam zurück. Eine wild gewordene Horde war hinter ihm her gewesen. Er war weggerannt. Gerannt, wie er noch nie zuvor in seinem Leben gerannt war. Doch dann verließ ihn sein Gedächtnis. Was war dann geschehen? Wie eine tiefe Grotte nach den ersten Biegungen. Kein Sonnenstrahl konnte hier noch seinen Weg herfinden. Dunkelheit, schwarz wie die schwärzeste Nacht. Rimon grübelte, doch kein heller Strahl wollte die Dunkelheit in seinem Gedächtnis durchbrechen. Es blieb schwarz wie die Nacht. Wie die Nacht, die ihn auch hier an diesem feuchten Platz umgab.

      Erst jetzt bemerkte Rimon das erdige Etwas in seinem Mund. Es musste Moos oder Gras sein. Doch als er versuchte, all dies, was sich unter seine Zunge gelegt hatte, auszuspucken, musste er feststellen, dass dies nicht möglich war. Ein Knebel verschloss seinen Mund. Mit einem Male war Rimon hellwach und völlig klar. Er setzte sich auf. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Körper – wie ein Blitz von der Stirn bis in die kleine Zehe. Gleichzeitig fiel ein Stück Moos von Rimons Stirn in seinen Schoß und Äste kratzten in seinem Gesicht. Ein kleines Ästchen piekte in seine offene Wunde an der Stirn. Ein von Moos und Gras unterdrückter Schrei war zu hören; dann nur noch wütendes Husten, als Erdkrümel Rimon in die Kehle rutschten. Tränen standen ihm in den Augen. Die Stirn schmerzte. Er musste würgen. Und er sah überhaupt nichts. Alles war nur schwarz. Panik und Verwirrung kämpften in ihm. Gobblins hatten ihn verfolgt, dessen war er sich sicher. Nun wachte er irgendwo wieder auf, jemand hatte ihn geknebelt, aber er war nicht gefesselt. Würden ihn Gobblins jemals ungefesselt lassen? Wäre er nicht gar schon tot, gegrillt und gefressen, wenn er den Gobblins in die Hände gefallen wäre?

      Er lag irgendwo im Freien, denn er saß auf feuchter Erde. Wahrscheinlich unter einem Busch, da die Äste, die sein Gesicht verkratzt hatten, sehr tief hingen. Rimon ertastete den Knoten des Knebels an seinem Hinterkopf. Er war nicht fest zugeknotet, so dass er sich leicht lösen ließ. Rasch öffnete er ihn und spuckte und hustete all das Moos, Gras und die Erde aus. Tausende kleine Krümel hingen und klebten überall im Mund. Rimon hustete und spuckte und hustete und würgte. Ein Knacken im Unterholz ließ ihn herumfahren. Jemand kam mit raschen Schritten auf ihn zu. Dann legte sich inmitten der Finsternis eine Hand auf seine Schulter. „Mensch, Rimon, willst du denn, dass alle Welt weiß, dass du hier bist?“

      Ein riesengroßer Stein fiel Rimon vom Herzen und nahm eine Zentnerlast von dort. Sofort hatte er die Stimme wiedererkannt. Erleichterung machte sich bis in die letzten Glieder breit, so dass alle Dämme brachen. Voller Glück und Freude drückte er sich an sie und weinte und schluchzte eine lange Zeit, sicher in ihrem Arm geborgen.

      Es war Yolanda.

      * * * * *

      „Warum hast du mich geknebelt?“ Rimons Verständnislosigkeit war nicht zu überhören. Auch ein Hauch Aggressivität schwang in seiner Stimme mit. Die Erleichterung, dass ihn keine Gobblins verspeist hatten, war rasch der blamablen Erkenntnis gewichen, dass ein junges Mädchen ihn gerettet und dass er zudem, und dies wog weitaus schwerer, in ihrem Arm herzzerreißend geweint hatte.

      Yolanda lachte. Die Morgenstunde näherte sich, und in der ersten lichten Dämmerung konnte Rimon die kleinen Grübchen an ihren Mundwinkeln erkennen. Sie lachte, aber ihre traurigen Augen verrieten, dass dies das erste Mal seit geraumer Zeit war.

      „Ich musste dich knebeln“, sagte sie mit gedämpfter Stimme. „Du warst nicht lange bewusstlos, nachdem du mit deinem Kopf direkt auf einen Stein gefallen warst. Ich hatte die Gobblins schon länger entdeckt. Zuerst wollte ich ins Dorf zurückeilen und Hilfe holen, aber dann erinnerte ich mich, dass ich nie wieder in dieses Dorf zurück wollte.“

      Yolandas Blick verdüsterte sich. Rimon horchte auf, eine Handbewegung Yolandas ließ ihn jedoch verstehen, dass dies eine andere Geschichte war und wenn, dann wann anders erzählt werden sollte.

      „Daher versteckte ich mich unter diesem Busch“, fuhr Yolanda fort. „Er ist so dicht, dass niemand sehen kann, ob sich jemand darunter verbirgt. Gleichzeitig konnte ich aber zwischen zwei Ästen hindurch Ausschau halten.“ Sie machte eine kleine Pause, bevor sie weitersprach. Sie blickte Rimon nicht an, sondern schaute an ihm vorbei, so, als würde sie nach wie vor Aus­schau halten. „Eigentlich wollte ich dich noch warnen, denn schon während des Tages hatte ich dich in deinem Lager entdeckt. Ich wollte mich aber nicht zu erkennen geben, fand es vielmehr lustig, dich noch ein wenig zu beobachten.“

      Rimon stöhnte innerlich auf, wollte die Augen verdrehen, tat dies aber nicht. Äußerlich regte er keine Miene.

      „Gerade als ich zu deinem Lager aufbrechen wollte, hörte ich ein Pferd wiehern und dann in wildem Galopp durch den Wald preschen. Dann wurde es still, viel zu still. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Doch als ein wildes Gebrüll, das einem das Blut in den Adern gefrieren lassen wollte, durch den Wald tönte, zog ich mich unter meinen Busch zurück. Ich konnte nur noch zu Erdan beten und für dich hoffen.“

      Ihr Blick verriet ein leichtes Schuldgefühl. Aber konnte ihr Rimon einen Vorwurf machen, dass sie ihn nicht gewarnt hatte? Was hätte sie denn machen können? Nein, Yolanda hatte richtig gehandelt.

      „Dann hörte ich, wie das Gebrüll näher und näher kam. Ich fürchtete bereits, dass die Gobblins irgendwie mein Versteck entdeckt hatten, doch dann sah ich schattenhaft eine Gestalt zwischen den Bäumen umherrennen. Ich musste nicht lange nachdenken, um zu wissen, dass du es warst. Genau neben diesem Busch fielst du mit dem Kopf direkt auf diesen Stein.“

      Yolanda schob einige Äste auseinander und zeigte auf einen dahinter­liegenden Stein. Ein kleiner Blutfleck war noch zu sehen.

      „Du hast auf der Stelle das Bewusstsein verloren. Ich packte dich und zog dich unter den Busch. Die Gobblins rannten allesamt an unserem Versteck vorbei, merkten aber wohl bald, dass sie deine Spur verloren hatten. Sie kamen zurück, schnüffelten durch die Gegend, aber bald schrie einer, der ihr Anführer zu sein schien, einige Worte in einer hässlichen, mir fremden Sprache. Sie gaben die Suche auf und zogen von dannen.“ Yolanda verstummte.

      Rimon dachte nach. „Der Blutfleck auf dem Stein, meine Spuren im feuchten Waldboden. Sie hätten uns doch entdecken müssen.“

      „Ich weiß. Außerdem haben Gobblins eine unfehlbare Nase. Sie suchten aber nie richtig nach dir. Aus irgendwelchen Gründen hatten sie auch nach deinem Verschwinden feierliche Laune. Du schienst ihnen nur zufällig über den Weg gelaufen zu sein. Die richtige Beute hatten sie anscheinend bereits gemacht.“ Yolanda zuckte mit den Achseln. „Wer weiß, was die hier treiben – so weit jenseits des Mundan. Aber nun sind sie auf jeden Fall weg. Das hoffe ich zumindest.“

      Gobblins hier im scheinbar sicheren Teranur. Rimon blickte sich unruhig um. Hielt die Verteidigung am Mundan etwa nicht länger stand? Sollten Bersker, Trolle und Gobblins auch noch dieses Fleckchen Erde unter ihre schreckliche Herrschaft reißen? Eiskalt lief es Rimon den Rücken hinunter. Er schauderte bei