Jo W. Gärtner

Die Sagen von Berandan


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sie wirklich ernsthaft krank? Oder war es nur Kummer? Musste er sich Sorgen machen?

      Schließlich schloss er die Augen ganz. Seine Mutter, die weinte, tauchte auf, verschwand, kehrte wieder, dann trat Thors hervor, schob seine Mutter zur Seite und blickte ihn, Rimon, mit strengem Blick in die Augen. So ging es eine Weile. Jarla und Thors tauchten abwechselnd auf, zogen sich wieder zurück, schoben einander weg, so als ob sie um den vordersten Platz in Rimons Gedanken kämpfen wollten. Doch dann, völlig unvermittelt, verblassten sie beide, Vater und Mutter, und zunächst herrschte voll­kommene Leere. Schließlich tauchte ein Schatten auf, klein und ver­schwommen, dann größer und klarer, bis Rimon sie erkannte. Es war Yolanda, das rothaarige Mädchen aus dem heruntergekommenen Haus am Rande des Dorfes. Langsam kam sie Schritt für Schritt näher. Anfangs umhüllte sie ein leichter Nebel, doch je näher sie kam, desto klarer wurde sie. Sie lächelte. Es war nur ein kleines Lächeln, und doch so unschuldig und rein, wie sonst niemand hätte lächeln können. Rimon meinte, einen Duft riechen zu können – den Duft des Frühlings. Frisch, kühl, aber dennoch warm. Wenn Gedanken riechen könnten, dachte Rimon und ein Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Mit diesem Lächeln schlummerte er ein.

      Die Schritte vieler Füße, die ganz in der Nähe der Lichtung sich ihren Weg durch den Wald bahnten, hörte er schon nicht mehr.

      * * * * *

      Ein Keuchen riss Rimon aus seinen Träumen. Noch immer hatte er Yolanda vor seinen Augen gehabt. Ihr Lächeln, der Duft, der Frühling. Doch gegen Ende, so glaubte er sich erinnern zu können, hatte sich ein Schatten auf ihr Gesicht gelegt.

      Das Keuchen war direkt neben ihm. Was war das? Ein Traum? Ein heftiger Ruck an seiner Schulter brachte ihn zurück in die Wirklichkeit.

      „Wach auf, Rimon, wach auf!“ Tamas Stimme klang eindringlich und schrill in seinem Ohr. Erneut schüttelte sie ihren älteren Bruder an der Schulter. Jetzt endlich öffnete er die Augen.

      Es war dunkel. Er musste lange geschlafen haben. Seine Schwester kniete neben ihm, ihr Atem ging schnell, Schweiß stand ihr auf der Stirn. Ihre ansonsten so großen und ruhigen Augen waren zu schmalen, ängstlich umherirrenden Schlitzen verengt. Mit einem Male war Rimon hellwach. Er hatte seine Schwester noch nie so erlebt. Sie war stets ruhig. Wenn sie dermaßen aus der Fassung geraten war, musste tatsächlich etwas Schlimmes geschehen sein.

      Mutter! Der Gedanke schlug ein wie ein Blitz und lähmte ihn. „Was ist mit Mutter?“ Seine Stimme war brüchig, zitterte. Mit seiner Rechten fasste er Tamas Hand. „Nun sag schon! Was ist mit Mutter?“

      „Nichts. Nichts ist mit Mutter!“ Tamas Augen rasten wild hin und her, als suchten sie etwas. „Du musst weg hier! Schnell! Hier auf der Lichtung finden sie dich sofort!“

      Rimon verstand überhaupt nichts. „Was? Was ist los? Warum soll ich denn weg?“

      Gedanken schossen wie wild durcheinander. Der Schatten hinter dem Baum. Die Spuren. Das Blut auf der Feuerstelle. Der Mann im Erdloch.

      „Du musst weg! Bitte! Sie finden dich hier!“ Tama wurde immer unruhiger. Ihre Augen blickten zur anderen Seite der Lichtung, schienen aber nichts zu bemerken.

      Rimon umfasste mit seinen Händen Tamas Kopf und versuchte, diesen still zu halten. Nur widerwillig ließ Tama dies zu. Schließlich blickte sie ihm tief in die Augen. Angst, ja, regelrechte Panik flackerte in ihren tiefen, dunklen Augen. Sie holte tief Atem, versuchte, etwas ruhiger zu werden.

      „Ich weiß nicht, wie Gobblins aussehen“, sagte sie. „Ich habe nur die vielen Geschichten der Alten und von Vater gehört, wenn sie von ihren Aben­teuern und Kämpfen gegen Bersker, Trolle und Gobblins erzählt hatten. Aber nun bin ich mir sicher, dass ich eben hier auf dem Weg zu dir eine Horde Gobblins gesehen habe. Ich wollte dir gerade einen Korb mit Essen bringen. Den habe ich fallen lassen. Als ich diese hässlichen Gnome zwischen den Bäumen entdeckt habe, konnte ich nicht mehr klar denken. Sie kamen direkt auf mich zu. Ich habe den Korb vor Schreck fallen lassen und bin zu dir gerannt. Sie müssen den Korb mit all den Leckereien entdeckt haben und wissen, dass hier jemand im Wald ist!“ Mit den letzten Worten schwoll Tamas Stimme wieder an und klang erneut so schrill wie zu Beginn. Ihre Blicke wanderten am Rand der Lichtung entlang, doch noch immer wirkte alles still. „Nun mach schon, Rimon, schnapp dir Yaris und verschwinde hier! Ich renne zurück ins Dorf und schlage Alarm, dass sich hier Gobblins im Wald herumtreiben. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich weiß mich zu verstecken! Nun mach schon!“

      Noch ehe Rimon etwas erwidern konnte, ehe er seine Schwester zum Bleiben aufhalten konnte, war sie bereits zwischen den Bäumen ver­schwunden. Zunächst wollte er ihr hinterher. Schließlich war er ihr älterer Bruder. Er musste sie beschützen und konnte sie nicht einfach so ihrem Schicksal überlassen.

      Bevor er ihr aber hinterher rennen konnte, lenkte Yaris seine Aufmerksam­keit auf sich. Das Pferd begann zu scheuen, warf unruhig den Kopf hin und her, tänzelte und dann – stieg es, wieherte laut und ängstlich, galoppierte zwischen Bäumen hindurch und verschwand in der Dunkelheit.

      „Nein!!! Yaris! Bleib stehen!“ Die verzweifelten Rufe Rimons konnten das Pferd nicht zurückholen. Mit Yaris waren auch der Bogen und sämtliches Gepäck verschwunden. Nur der Dolch, den Rimon an seinem Gürtel trug, blieb ihm. Doch für die Verteidigung gegen eine Horde Gobblins war dies eindeutig zu wenig. Tausende Gedanken schienen gleichzeitig durch den Kopf zu schießen. Panik und ein Gefühl in der Magengrube, das Rimon beinahe erbrechen ließ, machten sich breit. Er war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

      Da bemerkte er, wie still es um ihn herum geworden war. Kein Vogel gab mehr einen Laut von sich, kein Rascheln mehr im Unterholz. Die Stille war unheimlich, wollte ihn niederdrücken. Langsam drehte sich Rimon der Lichtung zu, war nicht fähig, aufrecht zu stehen, so sehr drückte die ohrenbetäubende Stille. Doch noch immer schien sich niemand der Lichtung genähert zu haben. Angestrengt suchte Rimon den gegenüberliegenden Rand des Lagerplatzes ab. Nichts. Ein zweites Mal ließ er seinen Blick über die Bäume, Büsche und die Dunkelheit dazwischen wandern. Wieder nichts. Doch da – in einem Busch! Rimons Herz schlug schneller und wollte in seine Hose rutschen. In einem Busch waren zwei Augen. Ja – da waren zwei Augen. Grüne Augen mit einer roten Pupille. Ruhig blickten die roten Punkte zu Rimon. Das Grün war wie Gift. Gift mit einem roten Pfeil in der Mitte, der bereit lag, direkt auf Rimon abgeschossen zu werden. Da entdeckte Rimon zwischen dem Busch und dem danebenstehenden Baum ein weiteres Augenpaar. Auch dieses von giftigem Grün und bedrohlichem Rot. Dann tauchte ein weiteres auf, und noch ein weiteres, und noch eines. Schließlich blickten ihn sechzehn dieser schrecklichen Augen an.

      Rimon wusste, dass dies sein Ende war. Bereits nach drei Tagen allein in der Wildnis hatte er den Kampf verloren. Die Finger tasteten nach dem Griff seines Dolches. Es war ein leichtes Gespür von Sicherheit, als er das warme Leder des Griffes fühlte. Er würde seine Haut wenigstens teuer verkaufen.

      Doch dann entschied er sich anders, machte kehrt, nahm seine Füße unter die Arme und rannte, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war. Hinter ihm erhob sich ein wildes Geschrei – höhnisch, verächtlich und vor allem tödlich. Rimon rannte und rannte. Im Dunkel der Nacht und des Waldes sah er überhaupt nichts. Er stolperte über eine Wurzel, fiel, rappelte sich wieder auf, rannte weiter, stieß sich sein Knie an einem Felsen. Plötzlich prallte er mit voller Wucht gegen einen Baum. Er taumelte. Doch die fürchterlichen, vor Lust und Blutgier quietschenden Stimmen, die sich ihm immer bedrohlicher näherten, trieben ihn weiter. Erneut stolperte er über eine Wurzel, fiel, konnte sich nicht halten, schlug mit der Stirn hart gegen einen Stein am Boden. Noch ehe er das Bewusstsein verlor, spürte er, wie sich eine Hand seinem Mund näherte, diesen zupresste, während eine andere Hand seinen Arm packte und ihn wegzog. Dünne Äste kratzten über sein Gesicht. Dann wurde es Nacht.

      Kapitel 3

      Hektisch suchte Yolanda ihre Sachen zusammen. Viel hatte sie eh nicht. Ihre roten Zöpfe hingen schlaff über ihre Schultern. Sie schlüpfte aus dem alten weißen Kleid, welches man an Verbrennungstagen trug. Nackt stand sie vor der hölzernen Truhe, in der sich all ihre wenigen Kleider befanden. Sie war mager geworden während der letzten Monate. Seitdem