Jo W. Gärtner

Die Sagen von Berandan


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Häusern im Dorf, dort wo sich die Vorräte befanden, etwas Brot und ab und zu sogar ein wenig Fleisch stehlen. Doch dies wurde zunehmend gefährlicher, denn die Dorf­bewohner argwöhnten bereits und verdächtigten das fremde Mädchen mit der kränklichen Mutter. Wer sollte es auch anders gewesen sein? Nach­weisen konnte ihr allerdings niemand etwas. Ein schlechtes Gewissen hatte Yolanda den Dorfbewohnern gegenüber nie gehegt. Sie verachtete die Menschen hier. Weil die Menschen sie und ihre Mutter verachteten. Tag­täglich spürte sie die misstrauischen Blicke, die auf ihr ruhten. Sie sah die Leute tuscheln und hinter vorgehaltener Hand kichern. Bösartig waren die Menschen hier, da war sich Yolanda sicher.

      Nur der Junge, der oben auf dem Hügel wohnte, bedachte sie nicht mit einem abschätzigen Blick. Er hatte einen Vater, der früher angeblich ein tapferer Krieger gewesen war. Sie mochte ihn nicht; angewidert ging sie ihrer Wege, wenn der alte Mann sich in seinem Ruhm suhlte und all die anderen, wie von Zauberhand bewegt, andächtig an seinen Lippen hingen.

      Yolanda hatte in dem Jungen einen Freund gefunden. Rimon. Ihr Freund. Und wie sie ihn verfluchte, als er ihr mitteilte, dass er sich nicht mit ihr im Dorf blicken lassen dürfe, denn was würden dann sein Vater und seine Freunde dazu sagen. War sie denn solch eine Aussätzige, dass niemand mit ihr auf offener Straße sprechen konnte? Zudem sprach er immer wieder davon, welch großer Reiter und Krieger er werden würde, wenn er erst einmal das sechzehnte Lebensjahr abgeschlossen hätte. So wie es sein Vater von ihm erwartete. Sie verstand ihn nicht. Aber dennoch mochte sie ihn.

      Yolanda betrachtete sich in dem alten, milchigen Spiegel, der an der Wand hing. Er war eine der wenigen Kostbarkeiten, die sie besaßen. Ihre Rippen traten deutlich hervor, darunter bildete der Magen eine Kuhle, die auf herausstehenden spitzen Beckenknochen ruhte. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Kindliches behalten, während sie allmählich zur Frau wurde. Ihre Brust wuchs und ihre Scham wurde von dichtem Haar bedeckt, welches nicht wie der Schopf auf dem Kopf rot, sondern tiefschwarz war.

      Außer dem Spiegel waren die Holzwände kahl. Nur neben der niedrigen Türe, die in den anderen Raum führte, in dem sich die Kochstelle und der Esstisch befanden, hing ein getrockneter Maulbeerzweig. Er sollte die bösen Geister von ihren Betten fernhalten und den guten den Weg zu ihnen weisen. Darunter stand das unsauber gezimmerte Bett, in dem Yolanda gemeinsam mit ihrer Mutter geschlafen hatte, die Decke lag noch immer zurückgeschlagen, obwohl in der letzten Nacht niemand darin gelegen war. Yolanda war die ganze Nacht über die Felder und Wiesen gezogen und war schließlich unter einer alten Linde eingeschlafen. Neben dem Bett stand eine Truhe. Darüber ließ ein kleines Fenster, in dessen Ecken Spinnweben wucherten, spärlich Licht in das enge Schlafzimmer fallen. Yolanda zog ihre einzige Hose, die sie besaß, an und streifte ein Hemd darüber, das ursprünglich einmal weiß gewesen war. Die lange Wanderung hierher hatte ihre Spuren hinterlassen und neue Kleider konnten sie sich nicht leisten. Einen langen Überwurf, den sie für kalte Wintertage brauchen würde, stopfte sie in ihre kleine Stofftasche. Sie ließ ihren Blick durch das halbdunkle Zimmer gleiten und überlegte, ob sie noch etwas benötigte, dann trat sie ganz nah vor den Spiegel und blickte lange hinein. Ihre Augen. Ihre dunklen Augen. Früher war hier ein ewiges Leuchten und Strahlen zu finden. Jetzt nur noch tiefes dunkles Nichts. Schwarze Augen, die nichts sagen wollten, hinter denen sich nichts befand – nur unendliche Leere. Darunter hatten sich tiefe Ringe eingegraben, das Gesicht war weiß wie Kreide, und der schmale Mund mit den blassrosanen Lippen ließ kein Lächeln zu, auch nicht, als sie es verbissen versuchte. Von ihren Augenwinkeln zogen sich feine weiße Streifen über ihre Wangen hinunter zum Kinn. Yolandas Tränen waren schon längst zu einer trockenen weißen Salzkruste erstarrt. Nun konnte sie nicht mehr weinen, sie hatte alle Tränen verweint.

      Dass es mit ihrer Mutter zu Ende gehen würde, hatte sie bereits seit langer Zeit befürchtet. Die Schrecken des letzten Jahres, die Auszehrungen und Entbehrungen der Flucht, das Leben hier im Dorf, welches häufiger noch belastender war als die Zeit, als sie ziellos durch die Wälder und über die Hügel geirrt waren – all das zehrte und nagte an ihrer Mutter. Unauf­hörlich, immer tiefer.

      Als Yolanda am vorigen Tag aufwachte, lag ihre Mutter noch schlafend neben ihr. Sie wunderte sich sehr darüber, denn gewöhnlich kroch ihre Mutter schon lange vor Sonnenaufgang aus dem harten Bett. Nun lag sie friedlich neben ihrer Tochter. Sie lächelte. Yolanda war leise aus dem Bett gestiegen und tapste vorsichtig in das andere Zimmer, wobei sie sorgfältig darauf achtete, dass die alten Bretter nicht knarrten. Sie wollte für ein Frühstück sorgen.

      Doch ihre Mutter wollte nicht frühstücken, sie wollte nicht einmal aufwachen. Friedlich lächelnd lag sich unter ihrer Decke und rührte sich nicht. Yolanda beugte sich über ihr Gesicht und spürte keinen Atem. Ihre Kehle schnürte sich zu. Eng, eng, immer enger. Eine kräftige Hand schien ihr in den Magen zu drücken, so heftig, dass er sich umzudrehen drohte. Yolanda sprang zur Tür, riss sie auf, doch noch ehe die frische klare Morgenluft ihren Magen beruhigen hätte können, musste sie sich übergeben.

      Ihre Mutter war tot.

      Abwesend, als würde sie sich in einer anderen Welt weit weit weg von hier befinden, ging sie zu dem greisen Mann, der sich um die Kranken im Dorf kümmerte. Dieser folgte ihr in das kleine Haus am Rande des Dorfes, untersuchte ihre Mutter, murmelte dann unverständliche Worte und strich die Lider der toten Frau herunter. Die Nachricht vom Tod der ungewollten Flüchtlingsfrau ging wie ein Lauffeuer im Dorf umher. Bald wussten alle Bescheid und ein jeder war sich sicher, dass dies der Fluch der alten Griza gewesen war.

      Yolanda flüchtete in die Wälder, irrte ziellos herum, rannte über Wiesen, und versuchte, der Trauer, die sie verfolgte, zu entfliehen. Doch erst als sie nachts unter der dicken alten Linde zusammensank, stiegen ihr die Tränen auf. Nun flossen sie unaufhörlich und versiegten erst, als Yolanda erschöpft und unruhig unter dem Baum einschlief. Wilde Träume jagten einander, doch ihre Mutter tauchte nie darin auf. Geister mit furchterregendem Gebrüll, Dorfbewohner, die höhnisch lachten, dann wieder ein Wasserfall, der in eine tiefe, unendlich schwarze Schlucht stürzte; und sie hinterher, sie stürzte und stürzte und stürzte und die Dunkelheit um sie herum wurde immer dunkler und erdrückender. Dann rannte sie aus einem tiefschwarzen Wald heraus, Gestalten, Aus­geburten der Hölle, verfolgten sie mit schauerlichen Schreien. Dann war alles schwarz – die Welt hatte aufgehört zu schlagen.

      Yolanda erwachte früh, von Schweiß gebadet. Sie blickte nach oben. Durch das dichte Geäst des Baumes schimmerte sanft das erste Licht der Dämmerung. Ein Eichhörnchen lugte von einem sicheren Ast neugierig auf das Mädchen, das unter ihm auf dem Boden lag. Die ersten Vögel begannen den Tag zu begrüßen. Es war friedlich und wunderschön. Dann kamen die Tränen wieder. Yolanda war nun völlig einsam.

      Am nächsten Morgen hatten einige Männer aus dem Dorf bereits das Gestell vorbereitet, auf dem der Leichnam verbrannt werden sollte. Vier Männer trugen Yolandas Mutter aus ihrem Haus zu der kleinen Anhöhe außerhalb des Dorfes, wo sie der Luft und Erdan übergeben werden sollte. Es war niemand gekommen. Nur Yolanda, der weise Medizinmann und die vier Helfer standen vor dem Holzgerüst, auf welchem die Frau lag, die Yolanda so sehr geliebt hatte und die allen anderen unheimlich, fremd und unwillkommen gewesen war. Der alte Mann sprach einige Worte über das Glück, welches Yolandas Mutter angeblich erfahren hatte, denn sie durfte nun in die ewige Bahn eintreten, sie konnte nun frei wandeln, wo und wie sie es wollte und sie durfte Erdan angesicht werden. Die Worte wirbelten durch Yolandas Kopf, versuchten, dort Halt zu finden, wurden jedoch alsbald wieder davongeweht. Eine endlose Leere machte sich in Yolanda breit, keine Worte konnte diese Leere füllen.

      Dann entzündeten die Männer eine Fackel und steckten den Holzstoß, der unter dem Gestell aufgetürmt worden war, in Brand. Gierig züngelten die Flammen um die Hölzer, zunächst zaghaft, dann immer gefräßiger. Der greise Mann nickte seinen Helfern zu, ging kurz zu Yolanda, legte ihr die Hand auf die Schulter, bevor die fünf Männer zurück zum Dorf gingen. Yolanda blieb alleine zurück. Höher schlagende Flammen flackerten in ihren dunklen Augen. Bald hatten sie die Trage erreicht, züngelten um sie herum und erfassten schließlich auch diese. Nun stand das gesamte Gestell in hellen Flammen, die Hitze wurde beinahe unerträglich. Am liebsten hätte sich Yolanda in die Flammen zu ihrer Mutter gestürzt, doch sie konnte sich nicht rühren. Sie schaute starr in das Feuer, während sich ihr Leben in dunklen Rauch auflöste.

      Irgendwann