Jo W. Gärtner

Die Sagen von Berandan


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Es gab keinen Weg zurück. Nun musste er sein Leben selbst in die Hand nehmen, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er das anstellen sollte. Er hatte Mut, aber nicht, wenn er alleine war. Sicher konnte er viele Tage in der Wildnis überleben, aber doch nicht alleine. Wie sollte er ganz auf sich gestellt nur zurechtkommen? Zugleich spürte er ein seltsames Kribbeln, immer wenn er daran dachte, wie er als freier Mann über weite Wiesen ritt, die Sonne über ihm schien und er den Wind an seinen Wangen spüren konnte. Bilder taten sich auf von kleinen Kindern, die ehrfurchtsvoll zu ihm aufblickten, wenn er von einem Kampf in die Stadt zurückgeritten kam. Von anderen Kriegern, die seine Tapferkeit und sein Geschick rühmten. Von jungen Frauen, die ihm sehnsuchtsvoll nachblickten. Wenn er ein großer Krieger wäre… ja, wenn… Doch wie sollte er das denn je werden, wenn er schon aufgrund des kleinsten Eulenrufs in dunklem Wald in Angstschweiß badete? Ja, er würde gerne so sein wie sein Vater. Doch er wusste nur zu gut, dass er das Zeug dazu nicht hatte, dass er viel zu ängstlich, viel zu schwächlich war. Da war es doch besser, zu Hause in Sicherheit zu bleiben. Da war es doch schöner, ein Kind zu bleiben.

      Tränen stiegen auf, die Rimon schnell wieder hinunterschluckte, denn sein Vater stand direkt neben ihm und beobachtete in mit einer Mischung aus Strenge und Ermutigung.

      Sein Pferd Yaris stand gesattelt neben ihm. Es schnaubte, so als könnte es kaum mehr erwarten, dass die Reise endlich losging. Pechschwarz war es und obwohl es noch sehr jung war, maß es bereits beinahe zwei Meter. Die Mähne war gestriegelt und in die geflochtenen Enden waren grüne Bändchen gebunden. Ein altes Märchen besagte, dass diese grünen Bändchen in der Mähne eines jeden stolzen Pferdes alle bösen Mächte fernhalten sollten. Rimon konnte sich nicht mehr genau an dieses Märchen erinnern. Er hielt solche Geschichten für sentimentales Gerede der Alten.

      Das schimmernde Fell des Pferdes war vor wenigen Stunden von Tama gereinigt und der Schweif von allem Dreck befreit worden. Yaris war komplett schwarz, nur knapp unter dem rechten vorderen Huf hatte er einen weißen Fleck von der Größe einer Kinderhand. Es war ein edles Pferd und hatte Thors sicherlich ein Vermögen gekostet.

      „Wir werden sicher gute Freunde“, flüsterte Rimon in Yaris’ Ohr.

      Als habe das Pferd verstanden, wieherte es freudig und warf den Kopf auf und nieder. Rimon lächelte. Ein treues Pferd würde ihm vieles erträglicher machen. Auch Thors lächelte. Er wusste nur zu gut, was seinem Sohn in diesem Moment durch den Kopf ging.

      Rimon wandte sich seiner Mutter zu, die traurig, aber gefasst nahe der Haustüre stand, und umarmte sie lang und innig. „Lebe wohl, Mutter“, presste er mit kratzender Stimme hervor. Er musste heftig schlucken, bis der Kloß in seinem Hals verschwand.

      „Lebe wohl, Rimon. Du wirst mir fehlen. Schau ab und zu hier vorbei und vergiss deine alte Mutter nicht.“ Eine Träne sammelte sich in Jarlas Auge, floss rasch über ihre Wange und tropfte auf ihr Kleid herab. Aus einer Tasche ihrer Schürze holte sie eine Kette mit einem kleinen silbernen Amulett. In feinster Arbeit war ein gewundener Drache geschmiedet, der von einem Schwert von oben bis unten durchbohrt war. Am Rand stand kreisförmig um den Drachen herum eine alte Inschrift, die Rimon weder lesen noch verstehen konnte.

      „Mer birail beraldal trai’l grandilmerania duria”, las Jarla mit beschwörender Stimme vor. „Es wird dir Schutz bieten, verliere nie das Vertrauen darin.“

      Rimon blickte seiner Mutter tief in die Augen, doch er fand nur eine endlose Leere, kein Ufer, an dem er festmachen und erkennen konnte, was seine Mutter fühlte. Nichts. Nur Leere.

      Rasch wandte er sich ab und ging zu Tama, seiner Schwester. Sie weinte ein wenig, sagte aber nichts. Mit ihren großen dunklen Augen schaute sie ihn traurig an. Rimon gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Sorge dich um Mutter, Tama. Ich mache mir Sorgen um sie.“

      Tama nickte, sagte aber noch immer nichts. Dann drehte sich Rimon um und trat vor seinen Vater, der ihm seine große rechte Hand auf die linke Schulter legte. „Sei tapfer, mein Sohn! Auch in auswegloser Situation gibt es einen Ausweg. Nicht immer erkennt man ihn auf den ersten Blick. Schau genau hin und du findest ihn. Und erkenne, dass manches, was du heute als unwichtig erachtest, schätzenswert ist. Befrage die Vergangenheit. Sie kann dir viel erzählen. Und höre auf die Geschichten, die dir die Flüsse, die Bäume und der Wind erzählen. Sie wissen viel mehr als du und jeder Mensch.“

      Fest und tief blickte Thors Rimon in die Augen. Es schien, als bliebe ihm nichts verborgen, was Rimon dachte, wovor er Angst hatte, wie er fühlte. Rimon fühlte sich unwohl. Rasch wandte er den Blick ab, marschierte festen Schrittes zu seinem Pferd, das ungeduldig wartete, stieg in den Steigbügel und schwang sich auf den Rücken des Pferdes. Dann hob er die Hand zum Gruß und trieb sein Pferd an. Langsam schritt es den Weg hinunter zum „Polternden Krug“. Als er ein letztes Mal zurückblickte, sah er seinen Vater, wie er neben Jarla stand und seinen Arm um ihre bebenden Schultern legte.

      Vor dem Wirtshaus standen einige Bewohner des Dorfes und riefen ihm Glückwünsche, Erfolg und Mut zu, während ein paar kleine Kinder zu ihm heranliefen und Blumen in die Stiefelschnallen und die Mähne steckten. Als er weiterritt, entdeckte er seine Freunde auf der Straße. Kira vom Nachbarhof stand dort, ebenso wie Rollo, Gralan und Tom.

      „Lass uns noch ein paar Gobblins übrig!“, schrie Tom und lachte.

      Kira winkte mit ihrem rechten Arm, wobei der Ärmel ihres Kleides ein wenig herunterrutschte. Ein weißer, dünner Oberarm kam zum Vorschein. Man sah ihr an, dass sie in ihrem Leben nur selten hart gearbeitet hatte. Ihr Vater besaß eine Pferdezucht. Die Menschen kamen von weit her, um sich bei ihm ein Pferd zu kaufen. Geldsorgen musste er sich nicht machen. Auch Yaris stammte aus dem Stall von Kiras Vaters. Sie rief ihm zu, dass er auf sich aufpassen solle und nie seine Freunde vergessen dürfe, denn sie würden ihn auch nie vergessen.

      Rimon verabschiedete sich nur kurz. Jeder längere Abschied hätte ihn noch trauriger gemacht. Zügig ritt er weiter. Als er am letzten Haus des Dorfes vorbeikam und die Bewohner hinter sich gelassen hatte, trat ein junges Mädchen aus dem bereits etwas zerfallenen Haus.

      Es hatte rötliche Haare, die es zu zwei Zöpfen, die auf beiden Seiten des Kopfes herabhingen, geflochten hatte. Auf seinen Wangen verteilten sich unzählige Sommersprossen, besonders rundum die kleine Nase. Die Augen, die immer fröhlich strahlten, schauten jetzt traurig zu Rimon auf.

      Es war Yolanda. Sie lebte erst seit kurzem in Wiesenau. Mit ihrer Mutter war sie im Winter hergezogen. Man erzählte sich, dass sie aus dem Süden gekommen waren, wo sie von Berskern vertrieben worden waren. Doch niemand wusste es genau, denn niemand hatte danach gefragt. Die Menschen des Dorfes beäugten alle fremden Menschen voller Misstrauen und arme Mütter mit ihren Kindern erst recht. Der Dorfvorsitzende gab ihnen schließlich das Haus am Ortsrand. Schon lange lebte hier niemand mehr, seitdem die alte Griza gestorben war. Keiner wollte in das Haus ziehen, denn die Leute munkelten, Griza hätte sich mit seltsamer Zauberei abgegeben und nachts mit mysteriösen Gestalten wilde Tänze aufgeführt. Nein, in dieses Haus wollte wahrlich niemand. Doch für die beiden Flüchtlinge aus dem Süden war es gerade recht.

      Rimon hatte Yolanda eines Tages im Wald getroffen. Er musste auf die Jagd gehen, denn er sollte seinem Ausbilder einen großen Vogel auf den Teller bringen. Gerade hatte er sich vorsichtig an einen mächtigen Auerhahn herangepirscht und die Armbrust schussbereit angelegt, als plötzlich ein lauter gellender Schrei durch den Wald tönte. Der Auerhahn war ebenso erschrocken wie Rimon selbst. Noch während Rimon verwundert um sich schaute, woher denn der Schrei gekommen war, rannte dieses Mädchen mit den roten Haaren und den lustigen Zöpfen zwischen den Bäumen hervor und direkt auf den Auerhahn zu, der zunächst vor Schreck erstarrte, bevor er schließlich panisch die Flucht ergriff.

      „Hee, du dummer Vogel, bleib stehen! Ich will doch nur mit dir spielen. Wir wollen doch nur spielen. Dummer Vogel, du, bleib da bei mir, bevor ich noch ungeduldig werde!“ Yolanda schrie dem Auerhahn hinterher, sah dann aber ein, dass sie damit keinen Erfolg haben würde. Dafür hüpfte sie nun im Kreis und schrie dabei: „Hey hey, Frühling, hey, endlich bist du da. Hey hey, Frühling, Yolanda ist auch da!“

      So sprang sie eine Weile, bis sie sich erschöpft auf das weiche Moos des Waldbodens fallen ließ. Die Arme und Beine weit von sich gestreckt, rief sie „Dummer