Joana Goede

Körperangst


Скачать книгу

noch nicht so schlimm gewesen. Jetzt, mit Ende Dreißig, hatte sie den Eindruck, sie könne unmöglich mehr lange leben.

      Der Arzt, den sie weitestgehend ignoriert hatte, weil sie abwesend mit gesenktem Kopf dasaß, sprach sie nun an: „Haben Sie sich mal gynäkologisch untersuchen lassen? Die Hormone, Östrogen, Progesteron? Haben Sie einen regelmäßigen Zyklus?“

      Minna schüttelte den Kopf. Das war nicht ihr Lieblingsthema. Mit Männern unterhielt sie sich ungern über solche Frauendinge. Und Ärzte fragten da leider häufig sehr direkt. „Wie oft kommt denn ihre Monatsblutung?“, hakte der Arzt nun auch tatsächlich nach und Minnas Hände wurden nun richtig kalt, ihre Wangen glühten vor Scham. Sie sagte dann sehr leise: „Sie, sie, naja. Unterschiedlich.“

      „Was heißt das?“

      Minna atmete ein und aus. Sie tat so, als müsse sie überlegen, um die Antwort noch hinauszuzögern. Dann erst überwand sie sich: „Also, mal alle vier Wochen. Mal erst nach acht. Mal schon nach zwei.“

      „Eher stark? Lang?“

      Minna wollte diese Information keinem Menschen auf der Welt geben. Einer der Gründe, weshalb sie es so sehr verabscheute, zum Arzt zu gehen, war, dass sie dort alle Hüllen fallen lassen musste. Sie konnte ihren Körper und sich selbst nicht mehr verbergen, ihr Körper stand sogar im Mittelpunkt des Interesses. Jedes Detail über sein Fehlverhalten musste sie mitteilen, der Arzt führte darüber Buch. Und Minna fühlte sich entblößt, auch irgendwie gedemütigt. Sie wusste, sie musste antworten. Der Arzt wollte ihr ja auch nichts Böses mit seiner Fragerei, er wollte ihr lediglich helfen. So gab sie endlich zur Antwort: „Unterschiedlich. Manchmal viel und lang, manchmal fast nichts und kurz.“

      Der Arzt nickte dazu, rückte mit ratlosem Gesicht seine Brille zurecht und erklärte dann: „Einen Besuch beim Frauenarzt würde ich auch für sinnvoll halten. Schwanger waren Sie nie?“

      „Nein.“

      „Haben Sie es mal versucht?“

      „Nein.“

      „Also ich schlage vor, dass Sie morgen um 8.00 Uhr zum Blutabnehmen kommen. Außerdem lassen Sie sich von meiner Sprechstundenhilfe einen Termin zur Darmspiegelung machen, es geht schneller, wenn sie dort anruft. Und einen Psychologen finden wir auch für Sie. Wenn bei der Darmspiegelung nichts herauskommt, würde ich Sie mal zum Frauenarzt schicken und dort alles untersuchen lassen. Haben Sie Haarausfall?“

      „Nein.“

      „Dann machen wir jetzt noch eben EKG.“

      Bei diesen letzten Worten wurde Minna so übel, dass sie sich fast übergeben musste. Sie schmeckte bereits Magensäure in ihrem Mund, schluckte sie erschrocken herunter, zwang sich zur Vernunft. Ihre Knie bebten, der Magen blieb herumgedreht. Sie konnte nicht aufstehen. Jetzt keine Panik kriegen, sagte sie innerlich zu sich selbst. Und doch bekam sie Panik.

      Der Arzt war aufgestanden und zur Sprechstundenhilfe hinausgegangen, um ihr alles mitzuteilen, was er Minna gesagt hatte. Minna blieb zusammengekrümmt auf dem Stuhl sitzen und traute sich kaum, zu atmen.

      Es kam ihr vor wie der pure Wahnsinn. Ihr Körper tobte vor lauter Widerwillen gegen diese Untersuchung. Ihre Angst kam nicht daher, dass sie fürchtete, es könne irgendwie schmerzhaft werden. Sie wusste, dass beim EKG nichts passierte. Nichts bis auf das, wogegen Minna eine große Abscheu empfand. Denn sie verabscheute die Situation, ihren Oberkörper in einem Raum mit grellem Licht und einer Arzthelferin zu entblößen und sich dann in dieser hilflosen Lage auf eine Liege zu legen. Die Erinnerung an diese Momente war ihr dermaßen unangenehm, dass sie tatsächlich nur unter Magenschmerzen aufstehen und dem Arzt folgen konnte. Der hatte schon zweimal nach ihr gerufen. Erst dann gelang es Minna, den Behandlungsraum zu verlassen und der jungen Arzthelferin in einen anderen hinterher zu wanken. Diese war recht klein, etwas rundlich und hatte volles, blondes Haar. Minna sah sie zwar von hinten, nahm ihre Person jedoch nur verschwommen wahr. Schwindel überkam sie. Sie widerstand der Versuchung, sich an einer Wand abzustützen, stattdessen tat sie brav einen Schritt nach dem nächsten.

      Dann erstarrte sie komplett, als sie den Raum mit der Liege betreten hatte. Es war dermaßen hell darin, Minna musste die empfindlichen Augen zusammenkneifen und mehrfach schlucken. Ihr Magen wand und wehrte sich. Sie drückte eine Hand darauf, während sie mit großen Augen einfach da stand. Die Arzthelferin wandte sich nun zu Minna um, lächelte freundlich mit einem vollen Gesicht und gesunden, roten Wangen, ja, ihre Augen strahlten beinahe vor lauter Freude. So schien es Minna. Doch Minna verstand kein einziges Wort von dem, was die junge Frau sagte, als diese den Mund öffnete. Sie hörte nur eine Art Brummen und dahinter irgendwo eine ruhige Stimme.

      Als Minna keine Reaktion auf das Gesagte zeigte, machte die Arzthelferin ein verunsichertes Gesicht, berührte Minna vorsichtig an der Schulter, woraufhin Minna sehr stark zusammenzuckte und aufwachte. „Ist alles in Ordnung? Ist Ihnen nicht gut?“ Minna hielt noch immer eine Hand auf ihren schmerzenden Magen gepresst, murmelte „Mir ist nie gut“ und setzte sich dann ganz schnell auf einen Stuhl in der Ecke, von wo aus sie sehr kritisch die Liege beäugte.

      „Wollen Sie sich einen Moment hinlegen?“, erkundigte sich die besorgte Arzthelferin und war offenbar kurz davor, Hilfe zu holen, denn sie hatte bereits einen Schritt Richtung Tür gemacht. Minna wusste, dass sie unbedingt etwas sagen musste, es strengte sie allerdings unglaublich an, ein Wort herauszubringen. In ihrem Kopf formulierte sie noch recht schnell, doch das Aussprechen verlangte ihr mehr Kraft ab als sie hatte. „Es ist nur mein Magen“, sagte sie deshalb, denn alles andere wäre ihr zu umständlich gewesen. Die Arzthelferin blickte Minna nun mit großen Augen an, man sah deutlich, wie sie alles durchging, was das verursachen konnte. „Kann ich Ihnen ein Glas Wasser bringen? Soll ich den Herrn Doktor holen?“

      „Nein, nein“, beeilte sich Minna zu sagen und ihr tat die junge Frau ziemlich leid, so dass sie nun allen Mut zusammennahm und ihre Jacke auszog. Das wertete die Arzthelferin als ein gutes Zeichen. Minna sah zu ihr auf und meinte: „Es geht schon gleich. Ich, ich habe große Probleme mit dem Kreislauf.“

      Minna wollte sich nicht ausziehen. Schon gar nicht mit diesen Magenschmerzen. Es war schlimm genug für sie, ihren Bauch zu entblößen, wenn es an eine Ultraschalluntersuchung der Organe ging, doch auch noch den BH auszuziehen, das war zu viel für Minna. Sie fühlte sich dann schutzlos und hässlich. Sie mied es normalerweise, ihren eigenen Körper anzusehen. Denn sie ekelte sich maßlos vor Körpern. Nun saß sie da und rang mit sich.

      Die Arzthelferin verzog etwas den Mund und sagte dann: „Sie brauchen nur den Oberkörper freizumachen. Dann legen Sie sich auf die Liege. Lassen Sie sich ruhig die Zeit, die Sie brauchen. Ich bin gleich wieder da.“ Mit diesen Worten verschwand sie und schloss die Tür hinter sich. Minna atmete tief ein und schloss die Augen. Den Kopf legte sie an der Wand hinter sich ab. Was für eine Strapaze. Diese Untersuchung.

      Dass Minna nun allein war, half ihr ein wenig. Sich allein auszuziehen, war schwer für sie und kostete sie große Überwindung. Sich in der Gegenwart von anderen Menschen zu entkleiden, war für Minna beinahe unmöglich. Sie wollte nicht, dass jemand sie nackt sah. Sie schämte sich, sie hatte Angst vor den Blicken der anderen.

      Nun nutzte sie die Zeit und legte ihren Pullover ab, das T-Shirt. Sie fror. Ihre eiskalten Hände zitterten sehr beim Öffnen des BHs. Ihr Magen war ein schmerzender Klumpen. Er drückte von innen gegen ihren Brustkorb und riet ihr dringend zur Flucht. Schnell anziehen und verschwinden. Pfeife auf die Ärzte, sagte er zu ihr, vergiss deine Schwester und deinen Freund. Du solltest hier schleunigst verschwinden, du bist hier falsch!

      Als Minna noch in der Bewegung des BH-Öffnens verharrte und überlegte, ob sie gehen sollte oder nicht, ging die Tür wieder auf und die Arzthelferin kam herein. Da wurde Minna das Ganze auch peinlich. Eilig nahm sie den BH ab, sah betont starr in die Luft, als sie aufstand und sich auf die Liege legte. Sie versuchte sich davon zu überzeugen, dass sie nicht nackt war. Es musste merkwürdig aussehen, wie sie den Kopf krampfhaft gerade hielt und nicht zusah, wie die Arzthelferin Saugnäpfe an ihrem Körper befestigte. Am Oberkörper und an den Fußgelenken. Minna blickte stur in die Luft und bildete sich ein, sie sei nicht nackt. Dann schloss sie die Augen und stellte sich vor, sie läge allein