Joana Goede

Körperangst


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ein „guter“ oder ein „schlechter“ Tag war. In ihr führte sie eine kleine Diskussion. Einerseits löste es häufig ein angenehmes Gefühl in ihrem Körper aus, wenn sie den Kontakt zu Niklas herstellte. Er tat ihr gut. Andererseits hatten ihr Körper und ihre Psyche heute sehr beim Arzt gelitten, deswegen war sie nicht sicher, ob Abstand da nicht besser war.

       Daher gab Minna zur Antwort: „So dazwischen.“

       Niklas nickte, setzte sich dann langsam neben Minna auf die Couch, lächelte sie an und forderte sie auf: „Sag stopp!“ Dann näherte er sich ihr vorsichtig. Er hatte ein Spiel daraus gemacht, herauszufinden, ob Minna eher einen guten oder eher einen schlechten Tag hatte. Dabei tastete er sich immer näher an sie heran, berührte mal vorsichtig ihr Knie, dann ihren Arm, dann ihre Schulter. Rückte sein Gesicht näher an ihres, gab ihr einen scheuen Kuss auf die Schulter, den Hals, die Wange. Meistens heiterte er Minna durch dieses Verhalten so sehr auf, dass sie vergaß, wie unangenehm Körperkontakt sein konnte. Schließlich überließ sie ihm meistens doch ihre Lippen und das löste ein wohliges Gefühl in ihr aus. So auch heute. Ihre Lippen blieben aneinander hängen, bis Lisbeths Stimme sie beide zusammenzucken ließ: „Kaum bin ich mal raus, fangt ihr gleich an zu knutschen.“

       Jakob behauptete: „Das machen sie doch immer, Mama.“

       Niklas sagte nur „Jaja“, gab Minna einen Kuss auf die Stirn und teilte mit: „Ich muss leider los. Einen schönen Abend, euch allen. Minna, melde dich jederzeit, ok? Ansonsten bin ich morgen Mittag bei dir.“

      „Ja, gut“, brummte Minna und versuchte noch ein wenig von dem Kuss zu profitieren.

      Psychotherapie I

      „Was führt Sie zu mir?“, erkundigte sich die Psychologin. Minna saß in einem weichen Korbsessel, fühlte sich unwohl und wusste nicht, was sie antworten sollte. Der Therapieraum war recht klein, in betont warmen Farben eingerichtet und wirkte eher wie ein winziges Wohnzimmer. Ein runder Holztisch stand zwischen Minna und der Psychologin, auf diesem befanden sich Taschentücher, mehrere Zettel und ein paar Bücher.

      Die Psychologin hatte sich weit zurückgelehnt, eine schmale Frau in Minnas Alter, mit sehr kurzen, roten Haaren und vielen Sommersprossen auf der Nase. Sie trug große, goldene Ohrringe und eine grüne Bluse, außerdem auffällige Armreifen. Ein Notizblock in ihrer Hand machte Minna etwas nervös. Sie mochte es nicht, wenn Menschen mitschrieben, was sie sagte. Oder wenn jemand Kommentare zu ihrem Verhalten notierte. Minna fühlte sich dann beobachtet und bewertet, das war ihr sehr unangenehm. Und deshalb traute sich Minna auch nicht so recht, auf die Eingangsfrage zu antworten. Sie löste mehrfach leicht die Lippen voneinander, um sie direkt wieder zu schließen. Es wollte kein Wort herauskommen. Die Psychologin machte einen sehr geduldigen Eindruck und ließ Minna Zeit.

      „Mein Hausarzt“, sagte Minna schließlich und musste sich räuspern, weil ihre Stimme nicht so richtig funktionierte, „er hat mich geschickt. Weil ich chronisch krank bin.“

      Die Psychologin schaute Minna aufmerksam an, notierte jedoch nichts. Sie fragte: „An welcher Erkrankung leiden Sie denn?“

      „Das weiß man nicht“, gab Minna hastig zu. Sie merkte, dass ihr kalter Schweiß auf die Handflächen trat. Ihre Jacke hatte sie noch an. In solchen Stresssituationen nützte sie ihre Jacke als zusätzlichen Schutz.

      „Und Sie sind hier, um unterstützt zu werden. Weil Sie Ihre Erkrankung und die Unsicherheit belastet?“

      „Vielleicht“, antwortete Minna, denn sie wusste ja nicht genau, was sich der Arzt dabei gedacht hatte, sie hierher zu schicken. Die Psychologin schaute Minna zwar an, doch Minna blickte nur auf ihre Hände. Auch wenn es unfhöflich war, wich sie den Augen der anderen lieber aus. Es strengte sie an. Das Reden strengte sie an. Und leider ging man ja zu so einer Therapie, um über Dinge zu sprechen. Fünfundvierzig Minuten lang reden. Und Minna war todmüde.

      „Welche Beschwerden haben Sie und wie lange?“

      Minna kannte diese Frage, sie hatte sie schon so unfassbar oft beantwortet, dass sie ihre Symptome quasi automatisch wie von einem Tonband abspulen konnte. Sie zählte also schnell und leise auf, womit sie sich herumschlug und fügte dann an: „Das alles sich steigernd seit so zwanzig Jahren.“

      Die Psychologin nickte und schrieb nun einiges auf, während Minna auf den Holzfußboden starrte, der zum Teil von einem ziemlich bunten Teppich verdeckt wurde.

      „Als was arbeiten Sie?“

      „Nachtwächter im Krankenhaus.“

      „Leben Ihre Eltern noch?“

      „Ja.“

      „Haben Sie Kontakt zu ihnen?“

      „Nein.“

      „Sonst Familie?“

      „Meine Schwester und ihr Sohn. Mein Freund.“

      „Wie lange sind Sie in dieser Beziehung?“

      „Etwa vier Monate.“

      Eine elende Fragestunde und Minna fühlte sich wie bei der Polizei. Als sei sie verhaftet worden und säße nun in einem Raum, wo sie verhört wurde. Sie war sichtlich nervös. Obwohl es ja um sie selbst ging und lediglich Fakten abgefragt wurden, hatte sie große Angst, etwas Falsches zu sagen oder etwas, das die Psychologin merkwürdig fand. Minna wollte, trotz all ihrer Besonderheiten, in keinem Fall besonders wirken. Lieber nur ganz normal.

      „Wie kommen Sie denn mit der Nachtarbeit zurecht?“, erkundigte sich die Psychologin nun, da fiel Minna nun kaum etwas zu ein. Sie brummte daher bloß: „Ich kann eben nur nachts arbeiten. Wach bin ich eh.“

      „Also hatten Sie die Schlafstörungen schon vor der Nachtarbeit?“

      „Ja.“

      „Und waren Sie mal in einem Schlaflabor oder so?“

      „Nein, was sollte ich da?“, fragte Minna zurück und die Psychologin schaute etwas verständnislos, weil doch jeder wusste, dass im Schlaflabor der Schlaf überwacht wurde und man anschließend sagen konnte, wo die Probleme lagen. Minna sah also ein, dass sie das näher erklären musste. „Ich schlafe ja eben nicht. In so einem Labor würde ich gar nicht erst einschlafen können, sondern die ganze Zeit wach herumliegen. Da können sie ja keine Schlafphasen oder sowas untersuchen.“

      Die Psychologin nickte dazu und schrieb wieder etwas in ihren Block. Minna hätte allzu gern mal einen Blick hinein geworfen. Oder vielleicht auch lieber nicht.

      „Und wenn Sie nicht arbeiten, schlafen Sie dann nachts auch nicht?“

      Minna gab zur Antwort: „Ich schlafe tagsüber, in kurzen Schüben. Wenn es eben geht. Nachts in der Regel nicht.“

      „Und was machen Sie dann die ganze Zeit?“

      „Lesen, Filme gucken, den Haushalt. Ich mache die Dinge, die andere Menschen auch Zuhause machen. Nur eben nachts.“

      „Und Freunde? Wann treffen Sie sich mit Freunden?“

      „Gar nicht. Außer zu meiner Schwester, meinem Freund und meinem Neffen habe ich keine Kontakte. Auch nicht in sozialen Netzwerken.“

      „Warum nicht?“

      „Sowas ist mir zu stressig.“

      Die Psychologin ließ ihren Stift eifrig über den Block flitzen, dabei klimperten ihre Armreifen sehr. Minna verzog leicht ungehalten das Gesicht. Sie fragte sich, in welche Schublade sie wohl gerade gesteckt wurde. Im Raum war es ziemlich still. Bis auf das Geräusch des Schreibens und das Geklimper. In Minnas Kopf passierte viel, nach außen hin wirkte sie aber wie versteinert. Die Psychologin hatte zuende geschrieben, überflog offenbar ihre Notizen und wollte dann wissen: „Haben Sie Träume?“

      Minna glotzte nun vollkommen überfordert auf die Frau vor, die sie ruhig und geduldig ansah. Träume. Hatte Minna Träume? Minna wusste nicht, ob sie welche hatte, ob sie