Bärbel Junker

Grauen in der Parkallee


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wohl mal verzichten.

       Und er schluckte und verzichtete; schluckte und sagte wieder ein Fußballspiel mit seinen Freunden ab, um auf seinen kleinen Bruder aufzupassen. Bis er sich in Karen verknallte, die sich jedoch seinem Schulkameraden Kevin zuwendete, weil er nie Zeit für sie hatte.

      „Ich muss auf meinen Bruder aufpassen, Karen, aber morgen kann ich bestimmt.“ Und auch dann hatte er natürlich doch wieder keine Zeit, weil Martin, der Liebling seiner Eltern, einen Aufpasser brauchte.

       UND DANN KAM DER TAG IN DER MÜHLE!

      „Nun stell dich nicht so an, Martin. In der Mühle gibt es keine Ratten, aber dort wartet ein wunderschönes Geschenk auf dich“, lockte Gernot.

       Und Martin, der verwöhnte Nachzügler, spitzte die Ohren. „Geschenk?! Dort ist wirklich ein Geschenk für mich?“, fragte er gierig.

      „Ja, Martin. Etwas, dass du dir schon sehr lange wünschst“, versprach ihm Gernot mit dem aufrichtigsten Gesicht der Welt.

      „Also gut, dann lass uns hinfahren“, erklärte sich Martin nach kurzem Zögern einverstanden.

       Und Gernot holte sein Fahrrad aus dem Schuppen, setzte seinen kleinen Bruder vor sich auf die Fahrradstange und radelte los.

       Sie fuhren fast eine Stunde, denn ihr Ziel befand sich weit außerhalb des elterlichen Bereichs. Endlich tauchte die seit langem stillgelegte Mühle vor den beiden Kindern auf. Anklagend reckten sich ihre zerfledderten, skelettartigen Windmühlenflügel dem Himmel entgegen. Und der Wind strich wimmernd durch die leeren Fensterhöhlen und sang höhnisch sein Lied von Vergänglichkeit und Tod.

      Knarrend schwang die nur noch halbe Eingangstür in ihren verrosteten Angeln, und Martin drückte sich ängstlich an seinen großen Bruder.

      „Komm“, sagte Gernot und nahm seine Hand.

      „Ich will nicht“, murmelte Martin bang, doch Gernot zog ihn unerbittlich mit sich fort.

       Hand in Hand betraten sie die alte Mühle.

       Seines Bruders Hand mit eisernem Griff haltend, eilte Gernot an den riesigen Zahnrädern vorbei. Für einen Moment verweilten seine Augen auf den gewaltigen Mühlsteinen und ein spöttisches Grinsen über etwas, das nur er sehen konnte, huschte über sein Gesicht.

       Noch immer lächelnd lenkte er seine Schritte zu der Holztreppe, die in die oberen Etagen führte.

      „Da hinauf“, knurrte er und stieß Martin grob vor sich her.

       Glänzende, schwarze Knopfaugen verfolgten ihren Aufstieg. Nackte, lange Schwänze wirbelten erregt über den Boden. Die Ratten verfolgten jede Bewegung der ungebetenen Besucher, hielten sich jedoch noch zurück.

       Seinen anfangs protestierenden, dann weinenden und später vor Erschöpfung fast ohnmächtigen Bruder unerbittlich vor sich her schubsend, kletterte Gernot bis zur letzten Plattform hinauf, wo Martin bewusstlos liegen blieb. Keuchend sank Gernot neben ihm zu Boden.

       Als Gernot sich wieder erholt hatte, beugte er sich über seinen Bruder und schlug ihm ins Gesicht. „Aufwachen, Martin“, knurrte er und unterstrich seinen Wunsch mit weiteren Schlägen in Martins blasses Gesicht.

       Endlich öffnete der kleine Junge seufzend die Augen und richtete sich auf. „W...wo bi...bin ich?“, stotterte er verwirrt und rieb sich seine brennende Wange.

       Gernot musterte ihn schweigend und voller Hass. „Wir sind in der Mühle“, erwiderte er.

       Martin, der die letzte Phase ihres Aufstiegs vor Erschöpfung kaum mitbekommen hatte, starrte seinen Bruder groß an. Er überlegte. Schließlich murmelte er: „In der Mühle? Und wo ist mein Geschenk?“

       Ganz kurz zog ein böses Lächeln Gernots Mundwinkel nach unten. „Dort“, sagte er und zeigte mit dem Finger auf das Holzgeländer.

      „Wo?!“, fragte Martin verständnislos.

       Gernot erhob sich und trat dicht an das Geländer heran. „Komm her, ich zeige es dir“, lockte er.

      Und Martin stand auf und stellte sich vertrauensvoll dicht neben seinen Bruder. Er beugte sich vor und schaute neugierig in die Tiefe. „Ich sehe nichts. Wo ist das Geschenk?“

      „Da unten“, grinste Gernot, hob den leichten Körper seines Bruders an und – stieß ihn über das Geländer!

       Martin stürzte kreischend in die Tiefe. Sekunden später schlug sein schmaler Körper auf den riesigen Mühlsteinen auf. Und jetzt kamen sie!

      Der Blutgeruch mobilisierte die Ratten. Aus Löchern und Schächten quollen sie hervor, bereit, sich um die willkommene Beute zu streiten.

      Gernot wandte sich schaudernd ab und suchte das Weite, bevor sich die Rattenmeute vielleicht auch noch auf ihn besann.

       Vor der Mühle stieg er pfeifend auf sein Fahrrad. Er bereute nichts. „Endlich bin ich ihn los“, flüsterte er und fuhr davon.

       Noch am Tage von Martins Verschwinden begann eine groß angelegte Suchaktion nach dem Jungen. Aber erst drei Tage später wurde Martins schrecklich zugerichteter Leichnam in der Mühle gefunden, da ihn niemand so weit entfernt von seinem Elternhaus vermutet hatte.

       Und obwohl niemals geklärt werden konnte wie Martin zu der alten Mühle gekommen war, tat die Polizei die Angelegenheit als Unfall ab und schloss die Akte.

       Gernot kam ungeschoren davon, denn der Mord kam niemals heraus. Doch jetzt, fünfzig Jahre später, holte ihn die Vergangenheit ein. Und sein Herr und Meister nahm kichernd und zischend von ihm Besitz.

      „Ich gehöre dir“, murmelt Gernot Thomsen erneut. „Was soll ich tun?“

      „Du sollst sterben“, zischt die fürchterliche Stimme.

      „Wenn du es so willst“, entgegnet der Mann apathisch und im selben Moment wird ihm eine Zigarette in den Mundwinkel gesteckt.

      „Aber ich rauche nicht“, murmelt Gernot Thomsen verwirrt. Da rast aus dem Nichts eine Flamme auf ihn zu. Thomsen schreit erschrocken auf und schließt reflexartig die Augen. Doch die Flamme entzündet nur die Zigarette und verschwindet wieder. „Was soll ich tun?“, fragt er.

      „Du sollst rauchen.“

      Gernot Thomsen nimmt einen tiefen Zug. Da sieht er im Aufglühen der winzigen Flamme erstmals seinen neuen Herrn und der entsetzliche Anblick durchbricht schlagartig seine Lethargie. Kreischend vor Entsetzen versucht er seinem Schicksal doch noch zu entrinnen.

      „Füge dich, Mensch. Du hast keine Chance“, kichert sein Meister und hebt die Hand.

      Mit einem dumpfen Knall explodiert die Zigarette und verwandelt Gernot Thomsen und das Bett in eine hell lodernde Flammensäule, die sich selbst und alles dicht um sich herum sekundenschnell verzehrt. Das Zimmer bleibt unversehrt, doch von Gernot Thomsen und dem Bett nur ein kümmerliches Häuflein Asche.

      LASZLO MORCOCK

      Als Inspektor Kerrington am nächsten Tag etwas verspätet zum Dienst erschien, wurde er bereits ungeduldig erwartet.

      „Mein Gott, Piet! Musst du denn immer zu spät kommen?“, nörgelte Chefinspektor Harrisson.

      „Wieso? Wo brennt´s denn?“

      „In der Parkallee und das, im wahrsten Sinne des Wortes.“

      „Um Gottes Willen, Tom! Doch nicht etwa noch mehr Tote?“

      „Zwei,