lassen. Die Polizei ihn einsperren."
"Hier in Prag hat er Narrenfreiheit", beteuerte Nadja, die Pragerin.. "Ausserdem wohnt er bei Ina, bei ihrer Familie. Ina schreibt ja auch, hat Kontakte bis nach New York, ist angeblich lesbisch... und auch Jüdin.... wie er".
"Jude? Kafka war auch Jude!“ Tamaras Stimme klang überlegen. Sie war etwas älter als die anderen, sie wusste mehr. “Und er wohnte nicht weit von hier.“
Sie befanden sich jetzt am anderen Ende der Karlsbrücke, stiegen die alte Steintreppe zur Kampainsel hinunter und liefen weiter am Kafka-Haus vorbei, wo der Schrifteller einst wohnte und - in fabelhafter Symbiose mit der Nostalgieatmosphäre, die über Jahrhunderte hinweg Prag eine besondere Prägung der Traurigkeit verlieh - seine Werke schrieb. Sein Prag war das jüdische Prag.
Kafka stand damals übrigens so wie einige andere Prager Schriftsteller auf der schwarzen Liste der Partei. Es war nicht gut, ihn in der Öffentlichkeit, etwa in der Straßenbahn, zu lesen - falls man zufällig das Glück gehabt haben sollte, ein abgegriffenes Kafkabuch wie Der Prozess oder Das Schloss aus früheren Zeiten, in die Hand zu bekommen. Alleine über Kafka zu reden, war schon verdächtig.
Nach erfolgloser Suche von drei freien Plätzen in einer der kleineren Bars auf der Kampa-Insel, haben Tamara und die Mädchen sich entschieden, statt dessen die traditionsreiche Brauerei Zu den Flecken aufzusuchen.
So wie in Wien das Café Hawelka - ein bekannter Künstlertreff, wo auch Franz Kafka sich mit Freunden traf -, das Münchener Hofbräuhaus oder die Bierkneipe Zum Kelch auf der Prager Kleinseite, - wo der gute Soldat Schweik sich am ersten Tag nach dem ersten Weltkrieg um sechs Uhr mit seinem Kumpel Sappeur Vodicka verabredete -, spielte - und spielt bis zum heutigen Tag – auch das alte Prager Brauhaus Zu den Flecken im kulturgeschichtlichen Ambiente dieser Stadt eine herausragende Rolle.
Seit dem Jahr des Herrn 1499 wurde hier Bier gebraut, verkündet der Hauswappen.
“Beim kühlen Naß kann man sich erst richtig entspannen“, meinte Nadja und als Pragerin wußte sie wohl, wovon sie sprach. Die Tschechen sind ein Volk von Biertrinkern und das sprichwörtliche "flüssige Gold" wird auch vom zarten Geschlecht geschätzt.
Die Mädchen betraten die Gaststube und nisteten sich in einer gemütlichen Ecke ein; an einem der großen runden Tische, wo Fremde nebeneinander sitzen und beim Bier leicht ins Gespräch kommen konnten.
.“Vielleicht angeln wir uns heute Abend jemanden, der uns einlädt."
Nadja zog selbstbewusst einen kleinen Handspiegel aus der Tasche, überprüfte süffisant ihr Aussehen und zufrieden mit sich selbst überstrich sie ihre Lippen mit einem roten Lippenstift.
Am anderen Tischende saß ein junger, blonder Bursche mit langem buschigen Haar und arbeitete - in sich gekehrt - an einer Zeichnung in seinem Malblock.
Das imaginäre Bildnis auf dem Papier stellte ein durch unklares Leiden bis zur Unkenntlichkeit verzerrtes Gesicht eines kahlköpfigen Mannes dar.
Die Zeichnung wirkte professionell, obwohl der jugendliche Zeichner allem Anschein nach noch keine zwanzig Jahre alt war; ankommende Gäste blieben zeitweise neugierig stehen, um dem Zeichner über die Schulter zu gucken..
"Prager Popart !" bemerkte schließlich einer. "Das sollte man doch glatt an der Karlsbrücke zur Schau stellen !"
Eine andere Stimme verkündete mit ironischem Unterton: " Ein Blumenkind von Prag..die sozialistische Kunst ist nicht immer glücklich!."
Der junge Mann erhob gelassen seinen Kopf. "Ich tue hier nur meine Arbeit“, sagte er. “Ich bin von der Prager Kunstakademie und bereite mich hier auf meine Prüfung vor."
Dana, das Provinzmädchen, sah interessiert zu, aber auch verdutzt und ungläubig;.mit zu viel Respekt betrachtete sie den jungen Künstler und sein Bild.
.“Sieht interessant aus, ist aber nichts für uns“ klärte sie Tamara nach einer Weile auf.
“Der pfeift selbst auf dem letzten Loch!“
Nadja warf indessen einigen einzelnen Gästen, die sie als geeignet und offen für ein nächtliches Abenteuer hielt,.herausfordernde Blicke zu; sie strahlte aufgestaute Sinnlichkeit aus.
Ein gestresster Kellner tauchte wie aus dem Nichts auf, mit einem großen Metalltablett voll von schäumenden Bierkrügen.
"Ihr seid wohl schon achtzehn, Mädels", meinte er lakonisch und knallte drei randvolle Krüge vor die Mädchen hin auf den Tisch..
"Zu unserem Bier gibt es heute übrigens Topinky - knusprig gebratene Brotscheiben mit Knoblauch", bemerkte er, bevor er wieder ging. "Die könnt ihr euch auch selbst holen, hinten an der Theke im Hof. Dort sind sie billiger und immer frisch".
“Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen!", beteuerte Nadja. "Dana kann uns ja welche holen! Für mich ohne Knoblauch!"
"Wenn du schon hingehst, dann, bitte, auch eine Schachtel Zigaretten für mich", sagte Tamara und drückte Dana einen Hundertkronenschein in die Hand.
"Welche Marke.?"
"Femina!"
Femina war eine der heimischen Zigarettenmarken, die erschwinglich und bei Frauen beliebt waren. Abgebildet auf der Verpackung war ein verführerisches, herausforderndes Frauengesicht. Feminas Tabak war dunkel, stark und ohne Filter.
Femina - das Weib - roch nach Abenteuer.Teure Zigaretten aus dem Westen konnte man zwar auch kaufen, doch waren sie teuer. Eine der Luxusmarken hieß Rembrandt und trug auf der Verpackung das Portrait des holländischen Meisters. Sie enthielt feine, amerikanische Tabakmischung, als Filterzigarette war sie leicht und elegant.
"Bis gleich!" sagte Dana. Sie kam sich plötzlich wie ein Lehrmädchen der beiden vor, langsam und lustlos stand sie auf und verschwand in der lärmenden Menschenmenge.
Tamara schaute um sich. Ihre verträumt wirkenden dunklen Augen, der bräunliche Teint ihres Gesichts machten sie für das andere Geschlecht interessant.
Anders als Nadja, die gleichfalls auf der Suche nach lohnenden Männerbekannschaften war, und es verstand, sich entsprechend verführerisch zur Schau zu stellen, wirkte Tamara sanft.
Ihre Melancholie, die früher oder später jedem auffiel, der mit Tamara zu tun hatte oder ihr näher kam, hatte einen Grund: Tamara war nicht wirklich gesund, obwohl ihr keine Krankheit anzusehen war.
Seit über einem Jahr kam sie regelmäßig hierher, manchmal mit Begleitung - doch oft auch ohne. Sie hatte Leukämie. Blutkrebs, den man ihr schon im zarten Kindesalter diagnostiziert hatte. Tamara wollte leben.
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Jan konnte sich mit Leichtigkeit an den Tag erinnern, an dem er das erste Mal über die Karlsbrücke ging. Er war sieben Jahre alt und mit seinen Eltern auf Besuch bei seinem Onkel in Prag. Sein Vater wollte ihm das historische Universitätsgebäude zeigen, dort sollte Jan später studieren. Jan aber gefiel das Gebäude gar nicht, er fand es alt und grau. Von der Fassade blätterte der Putz ab: die eindrucksvollen Statuen auf der Karlsbrücke waren im lapidaren Zustand und dringend restaurierungsbedürftig.
Fast schwarz waren sie und einigen Figuren fehlten sogar gewisse Korperteile; so hatte der Patron der Flossfahrer und Beschützer der tschechischen Sprache Johannes von Nepomuk hatte keine Nase und keinen Mund mehr.Statt dessen nur zwei dunkle Löcher im Gesicht. Jan war nicht beeindruckt.
Nichtsdestotrotz lief er später als Student in Prag unzählige Male über die älteste Brücke der Stadt und fühlte sich mit ihr innerlich verbunden. An sonnigen Tagen genoss er von hier aus die Sicht auf Prags zahlreiche Brücken und Türme und auf die Königsburg Hradschin, die sich majestätisch über der Prager Kleinseite erhebt und dem Bilderbuchpanorama der Stadt den letzten Schliff gibt.
Als Jan auf der Suche nach Tamara an jenem Abend über die Karlsbrücke lief, verdichtete sich der Nebel immer mehr und die Statuen waren kaum sichtbar, nur schemenhaft konnte er sie wahrnehmen