sagte Tamara, ohne sich klar festzulegen.
Nachdem die Belgier aus dem nebligen Brabant sich mit Nadja und Tamara auf den Weg zum Ausgang gemacht hatten, blieb Dana sitzen und aß die letzten Brotcroutons vom Pappteller auf. Hungrig war sie. Ihre zwei Freundinnen verschwanden mit ihren Begleitern im silbernen Nebel der Prager Strassen mit unklarem Ziel.
Dana hatte keine Visitenkarte und auch keine Verabredung. Von ihrem Prager Frühling war sie noch weit entfernt..
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Durch diesen nebligen Abend kündigte sich der Prager Herbst an. Die studentischen Neuzugänge, zu denen auch Jan gehörte, waren mittlerweile so groß, dass die Universitätsverwaltung beschloss, sie in eine provisorische Studentensiedlung am Stadtrand von Prag zu verlegen. Für Jan bedeutete dies einen langen Anfahrtsweg – von mehr als einer Stunde in der oft überfüllten Straßenbahn - von der Siedlung bis zur philosophischen Fakultät im Zentrum der Stadt.
Die neuen Behausungen waren gut fünfzig Jahre alt und auf die Schnelle notdürftig renoviert worden. Sie befanden sich in der Nähe eines ehemaligen Fabrikgeländes, wo immer noch eine alte, heruntergekommene Fabrik stand, seit Jahren schon außer Betrieb. Zeitweise diente dieses Gelände auch als Sammelstelle für Metallschrott aller Art.
In der Nähe des Geländes gab es eine billige Gaststätte – Zum Eber genannt. - mit einer schäbiger Bierschänke, frequentiert von lokalen Alkoholikern.
Unweit der Endhaltestelle der Straßenbahn befand sich ausserdem eine Würstelbude; dort konnte man Bratwurst mit Senf im trockenen Brötchen kaufen - für den schnellen Verzehr im Stehen. Somit war nach der Meinung der Universitätsverwaltung das physische Überleben der Studenten gesichert.
2 In der Kolonie
Als Jan hier mit seinem Gepäck ankam, regnete es, kalter Novemberregen, der bereits nach Schnee roch. Als erstes musste er sich beim Verwalter der Häuser anmelden, einem alten Prager Lebemann, der ihn zwar freundlich aber mit doppeldeutigen Sprüchen als Neuzugang registrierte. Obwohl er im Dienst war, roch er nach Wodka, doch daran störte sich keiner, Wodka war Medizin, nicht Alkohol.
"Mädchen wohnen in der zweiten Häuserreihe", sagte er. "Ihr seid doch alle geil und ich weiß, dass du sie studieren wirst!" Er lachte. "Offiziell ist Damenbesuch weder erlaubt noch verboten, hahaha... und eine fesche Studentin ist immer einen Stoß wert", belehrte er ihn.
Die weiß gestrichenen, spartanisch ausgestatteten Zimmer in der Siedlung glichen einander wie ein Ei dem anderen; drei getrennt stehende Betten mit klapprigen Bettkästen, ein großer Tisch mit drei Stühlen und ein gelber Kleiderschrank. Einfache Dreibettzimmer waren die Regel, die Dekoration der Zimmer durch Poster, Bilder oder ähnliches ließ der Phantasie der Zimmergenossen freien Lauf.
Jan teilte sein Zimmer mit zwei anderen Studenten; Milan studierte Landwirtschaft und war nur selten da. Sein Vater hatte in der Nähe von Prag einen Bauernhof, wo Milan ihm regelmäßig mit verschiedenen Arbeiten aushalf. Nur an bestimmten Tagen kam er nach Prag, um Vorlesungen zu hören und dort zu übernachten.
Martin, der zweite, war Medizinstudent und kam aus einer größeren Stadt an der polnischen Grenze. Mit ihm konnte Jan besser reden als mit Milan, der zwar - wenn angesprochen – immer hilfsbereit grinste, aber nie eine richtige Meinung von sich gab. Wenn es Männer ohne Eigenschaften gibt, so war Milan einer.
Der Mediziner hingegen war ein richtiger Typ. Sein Gesicht wirkte äußerst konzentriert. Hohe Denkerstirn, markante Charakternase mit aufgesetzter Brille, die Oberlippe lang und steif. Wenn er sprach, artikulierte er stets mit Sorgfalt. Sein Lieblingswort war exakt.
Neben seinem Bett stand immer eine Flasche Mineralwasser und auf dem Bettkasten lagen mehrere Bücher, die er gleichzeitig las. Nie war er richtig rasiert, doch Bart trug er auch nicht.
Ein Gespräch mit Martin war wie ein Stierkampf mit zwei Toreros, wobei der eine den anderen jeweils für den Stier hielt. Über Frauen redeten sie beide mit fachmännischer Überheblichkeit, um sich gegenseitig die Überlegenheit auch auf diesem Terrain zu beweisen.
In Wirklichkeit hatten sie beide kaum nennenswerte Erfahrung. Jan hielt sich meistens ziemlich zurück, wogegen Martin gerne den Hahn aus dem Korb herausließ.
"Wenn wir uns ein Weib teilen müssten", sagte Martin, "was würdest du nehmen, den oberen oder den unteren Teil?"
Wie groß genau der obere Teil im Vergleich zu dem unteren war, war nicht klar. Kopf, Herz, Emotionen, ja sogar Brüste konnten dazugehören.
"Den oberen Teil", sagte Jan.
"Idiot! Du hast keine Ahnung!"
"Materialist!", schoss Jan zurück.
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Allmählich wurden die Tage immer kürzer und das Wetter auch merklich kühler. Zwar gab es in den Räumen der Studentenkolonie eine Zentralheizung, allerdings hatte diese ihre besten Jahre längst gesehen und funktionierte nur halb. Üblicherweise waren die Heizkörper gerade noch lauwarm. Die Zimmer sowie auch die gemeinschaftlichen Duschräume waren kalt. Ohne richtige Sitzgelegenheit konnte man sich in den Zimmern kaum aufhalten, am besten verbrachte man die Zeit auf dem Bett liegend.
Jan zog es vor, bei Tagesanbruch - im Winter gegen acht Uhr morgens - sein Zimmer ohne Frühstück zu verlassen und mit der Straßenbahn zur Fakultät zu fahren. Dort konnte er sich im Kellerbistro vor Beginn der ersten Vorlesung zumindest einen heißen Tee im Stehen leisten - manchmal sogar eine heiße Gulaschsuppe mit Speckbrötchen - und ein Wort mit seinen neuen Freunden wechseln. Hier traf man sich leicht mit Kommilitonen aller Couleur ;auch die Kubaner und Kubanerinnen kamen gerne hierher.
Eine von den kaffeebraunen Mädchen hieß Gisela. Sie war Mulattin, mit Haut wie Milchschokolade und etwas verlebt wirkenden, harten Gesichtszügen. Ihr Körper war wohlproportioniert. Um die Dreißig, war sie aus dem Studentenalter schon ziemlich raus und bei ihren kubanischen Landsleuten als Führernatur hoch angesehen; vermutlich hatte sie auch eine Art Aufsichtsfunktion für ihre Gruppe, die bunt gemischt war.
Neben Roberto, dem Archhitekturstudenten war sogar ein ehemaliger Balettänzer darunter, Manuel, schwarz wie Ebenholz, so wie auch Dionisio, der Medizin studierte und irgenwann als Zahnarzt in seine subtropische Heimat zurückkehren wollte. Dionisio war ein willensstarker Charakter und als einziger Kubaner mochte er Gisela nicht.
"Gut ist sie nur fürs Bett!" Das war seine Einschätzung von Mann zu Mann. Möglicherweise wusste er besser als die anderen, wovon er sprach.
Gisela sprach besser Tschechisch als die anderen Kubaner, verbrachte Stunden in Gesprächen mit tschechischen Mädchen und als ältere gab sie ihnen wertvolle Tipps fürs Leben. Laut Roberto hatte man sie nach der kubanischen Revolution aus einem von Havannas unzähligen - hauptsächlich von amerikanischen Touristen frequentierten – Casinos jener Zeit geholt.
Nach der Flucht von Diktator Batista hatte Castro die Freudennester geschlossen, doch was tun mit dem Personal? So wurden einige geignete Modelle einer Schnellgehirnwäsche unterzogen und mit Erfolg zu Funktionären der Castro-Partei umgebildet. Eigentlich eine Bilderbuchkarriere, meinte Roberto.
Im engeren Freundeskreis äußerte er allerdings gewisse Zweifel an der so überstürzten Schließung der Freudenhäuser, da es doch gewisse Bedürfnisse im Leben eines jeden Mannes gäbe und diese erfüllten auch eine soziale Funktion.
"Man hätte sie verstaatlichen können", sagte er. "Jeder Club wäre dann ein volkseigener Betrieb mit Arbeitstätigen gewesen an deren Staatstreue nicht zu rütteln wäre. So wäre die Sache zufriedenstellend für alle geregelt."
Die jungen Tschechen verstanden dieses Thema nicht wirklich, da ähnliche Etablissements bereits abgeschafft worden waren, als sie noch in der Kinderwiege lagen. Sie hatten hier wirklich keine blasse Ahnung. Kubas Revolution war im Gegenteil noch jung und die Erfahrung der dekadenten Vergangenheit glich einer frischen Wunde.