Gerhard Gemke

Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel


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durften. Man kann das natürlich auch Schutzgelderpressung nennen. Heutzutage würde Kunibald dafür hinter Schloss und Riegel landen. Damals aber errichteten ihm die erleichterten Breselner ein Denkmal. Einen Brunnen mit Kunibald als eisernem Ritter oben drauf. Den kennt ihr ja. Der steht auf unserem Marktplatz. Freddie, lies mal den Zettel vor, den dir Jan eben rübergeschoben hat.“

      Freddie wurde knallrot und breitete langsam einen Wisch auf seinem Tisch aus. Irgendwas stand in krakeliger Schrift darauf.

      „Nun?“ Die Lehrerin knipste ungeduldig mit ihren Kugelschreiber.

      „Es kam eines Tages nach Bresel, ein …“ Freddie stockte und schaute verzweifelt zu Frau Rufus hinüber. Die Lehrerin nickte ihm zu, ohne eine Miene zu verziehen. „Weiter.“

      „… ein ausgemachter Esel. Der hatte ein Kinn wie die Schnauze vom Wolf – und hieß Radolf.“

      Immerhin lächelte Frau Rufus. Wenn auch sparsam. „Ist dieser Radolf ein Ritter?“

      „Nee.“ Jan grinste verlegen. „Unser Vermieter.“

      „Aha. Der wird nicht erfreut sein, das zu lesen. Freddie, den Zettel!“

      „Aber – Frau Rufus …“ Jan sah sie flehentlich an.

      „Also“, die Lehrerin war verhandlungsbereit, „wenn ihr versprecht, bis zum Schluss der Stunde …“

      „Soll nicht wieder vorkommen“, beeilte sich Freddie, und Jan nickte hastig.

      Anke Rufus kassierte den Zettel und ging zur Tafel zurück. In der folgenden halben Stunde erzählte sie von den blutigen Kreuzzügen im 11. Jahrhundert, an denen sich auch die Knittelsteiner beteiligten. Bis auf einen gewissen Ritter Ademar, der die Hosen voll hatte, und sich unter der Burg im Breselberg verkroch. In irgendwelchen Stollen, aus denen er nie wieder auftauchte. Man munkelt, seine Rüstung halte noch heute Wache im Berg und stürze sich auf ungebetene Besucher.

      Anke Rufus berichtete von den grausamen Raubzügen des Arnulf von Breselberg-Zoffhausen, dessen Stammbaumverästelungen vermutlich bis zu Clemens Zuffhausen reichten.

      „Unser Direktor?“, krähte ein Mädchen aus der letzten Reihe.

      Frau Rufus nickte. „Jawohl, so sieht's aus. Direktor Zuffhausen ist mit einem Raubritter verwandt. Keine dummen Bemerkungen, Freddie, sonst …“ Sie wedelte mit dem Zettel vor seiner Nase.

      Freddie klappte auf der Stelle seinen Mund wieder zu und betrachtete treuherzig den erhobenen Zeigefinger der Lehrerin.

      „Aufgrund dieser fernen Verwandtschaft“, fuhr sie fort und ließ dabei Freddie nicht aus den Augen, „ist die Breselner Geschichte dem Herrn Zuffhausen gewissermaßen in die Wiege gelegt worden. Ihr wisst, dass er auch Vorsitzender des Historischen Museums ist. Übrigens immer einen Besuch wert.“

      Endlich ließ Frau Rufus von Freddie ab und nahm ihre Wanderung durch die Klasse wieder auf. „Es gibt da noch eine Reihe weiterer Verbindungen der Knittelsteiner zu unserer Stadt“, fuhr sie fort und erzählte ausführlich vom sanften Adalbert Stifterstein zu Bresel, der im 16. Jahrhundert ein Jesuitenkloster vor den nördlichen Stadtmauern gründete.

      „Mit einem wunderschönen Park dahinter.“ Anke Rufus' sehnsüchtiger Blick fand wie von selbst den Weg aus dem Fenster. „Heute ist das Adalbertinum eine Schule. Unsere Schule.“

      Und schließlich lachte sich die Klasse kringelig über den verrückten Aimo Rochefort de Bresèl. Dieser Spross einer französischen Seitenlinie derer von Knittelstein wollte im 17. Jahrhundert tatsächlich eine Rutsche bauen. Vom Burgturm durch den Breselberg bis runter zum Rathaus.

      „Oh Mann, das hätt' ich auch gemacht“, seufzte Freddie.

      Jan schlug sich vor die Stirn und brach stöhnend auf dem Schultisch zusammen. „War klar!“

      Und Lisa zappelte: „Können wir in die Burg nicht mal rein? Ich meine so richtig, bis oben auf den Turm!“

      Anke Rufus lächelte. „Da müssten wir mal mit den derzeitigen Bewohnern verhandeln. Aber – und das soll das Letzte für heute sein – früher war das Problem eher umgekehrt.“

      Fragende Gesichter.

      „Wie kommt man aus der Burg raus?“

      „Ganz einfach. Über die Zugbrücke.“

      „Und wenn davor der Feind stand? Die alten Ritter lagen sich alle Nase lang in den Haaren. Das wurde eine solche Landplage, dass schließlich die Bischöfe eingriffen und eine Waffenruhe verordneten. Von Mittwoch Abend bis Montag früh.“

      Lisa kicherte. „Direktor Zuffhausen sollte mal 'ne Schulruhe verordnen. Von Mittwoch Abend bis Montag früh!“

      „Jetzt habt ihr bald zwei Wochen Schulruhe. Reicht euch das nicht?“

      Alles neete und nööte durcheinander.

      Anke Rufus war die Geduld in Person. Noch drei Stunden, dann begannen die Ferien.

      „Also. Am Montag Morgen ging dann bei den Rittern wie bei uns in der Schule das Hauen und Stechen wieder los. Wer sich nicht an die Pause hielt, musste zur Strafe nach Jerusalem pilgern. Und so eine Pause, wird erzählt, rettete ein paar Rittern im Jahre 1087 das Leben und die Burg. Da griff nämlich Wolfram von Trutzlingen, genannt Wolfram mit dem Buckel, Burg Knittelstein an. Die wurde von Meinhardt dem Dicken verteidigt. Wolfram hatte Wurfmaschinen den Berg hinauf schaffen lassen. Eine irrsinnige Plackerei, könnt ihr euch vorstellen. Am Mittwoch Abend dann waren die Mauern der Burg durchlöchert wie ein Sieb und die Zugbrücke kurz vorm Zusammenbruch. Doch die beiden Raufbolde hatten wenigstens vor dem Bischof Respekt. Naja, und bis nach Jerusalem war es verflixt weit. So hielten sie sich notgedrungen an die Ruhezeit. Aber Meinhardt der Dicke war schlau. Er nutzte die vier folgenden Tage und Nächte und – das berichten die alten Legenden – haute eine Spalte im Berg so aus, dass sie für dicke Ritter begehbar wurde. Oder wahrscheinlich eher bekriechbar. Plötzlich kamen am Montag Morgen irgendwo unterhalb der Burg ein paar finstere Gesellen aus einem Stollen geschlüpft. Sie fielen dem überraschten Wolfram und seiner Truppe in den Rücken und – man darf es kaum sagen – warfen sie mit allem Gerät die Südklippen runter. Hinter der Burg, bei der Teufelsnase. Ihr kennt das dort? Ihr wisst, was das bedeutet. Noch Fragen?“

      „Klar! Wo kommt der Gang denn raus?“

      Anke Rufus machte ein geheimnisvolles Gesicht und blickte Timo ernst in die Augen. „Ich vermute,“ sagte sie langsam, „im Keller von Direktor Zuffhausen.“

      Es dauerte eine Weile, bis die ersten grinsten.

      „Und nun ab mit euch in die Pause. Aber nicht bis Montag früh!“

      Meinhardt der Dicke verdrehte die Augen. Ja damals! Da hatten sie sich durch den Berg gewühlt. Und dann erging's dem Wolfram schlecht!

      Und heute? Hing er in der Knittelsteiner Ahnengalerie! Und blickte hinunter auf diese Göre, die ihm neulich drei schwarze Haare in jedes Nasenloch gemalt hatte. Beim verklemmten Visier! Da rannte sie schon wieder die Galerie entlang. Streckte ihm die Zunge raus und verschwand in der Wendeltreppe zum Burgturm.

      Jubiläum

      Montag, 14. April, Punkt 10 Uhr. Rathaus Bresel.

      Bimmelebimmelebim! Die goldene Rathausglocke in der Hand von Bürgermeister Aloisius Schwobenhammer läutete die letzte Sitzung des Stadtrats vor der Osterpause ein. Versammelt hatte sich die komplette Bürger-Partei-Bresel. BPB. Allesamt alteingesessene Breselner und stolz darauf, viel für das Ansehen der Stadt geleistet zu haben. Zum Beispiel Bäcker Blume, der neben Schneider Böck saß und sorgfältig die Mehlreste aus seinem Anzug klopfte. Frisör Fernandel betrachtete missbilligend die Glatze von Sparkassendirektor Schönemann, die sich unter wenigen nassgekämmten Haaren zu verstecken versuchte. Martina Dall vom Dalli-Markt schäkerte mit Fridolin Rausch vom Kaufhaus Rausch. Der alte Todd Emmerich saß etwas abseits und kämpfte mit dem Schlaf. Der Totengräber von Bresel musste seit langem schon alle Nachtwachen selbst