Gerhard Gemke

Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel


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Haar am Arm ihres Gatten Eduard. Dicht gefolgt von Jo mit langem dunklen Zopf, quietschrosa Rüschenkleid und einem Ich-ertrage-das-alles-ohne-mit-der-Wimper-zu-zucken-Blick. Dahinter im mausgrauen Kostüm Fräulein Sibylle von Oelmütz. Selbstverständlich nahmen sie in der erste Reihe Platz. Rechts. Die war für sie reserviert, wie schon für alle Knittelsteiner zuvor.

      Die zweite Reihe füllten Bürgermeister Aloisius Schwobenhammer, seine Frau und die zwei erwachsenen Töchter. Nebendran Agathe und Radolf Müller-Pfuhr. Radolf mit kecker Fliege unterm Kinn und einem strahlenden Lächeln darüber. Jeder sollte sehen, wer neben dem Bürgermeister sitzen durfte.

      Der Rest der rechten Bankreihen war grün. Grüne Hosen, grüne Jacken, grüne Mützen mit grünen Plastikeichenblättern: Sankt Luitprand, die Schützenbruderschaft von Bresel. Und ihre Frauen in den Reihen dahinter.

      In der letzten Bank auf der äußersten Kante hockte Friedrich Morchel, schneuzte sich die Triefnase und winkte den Heiligenbildern zu. Ehemaliger Schnapsbrenner und in Bresel bekannt und beargwöhnt als der alte Fritz.

      Pastor Himmelmeyer ließ seinen Blick durch das barocke Kirchengewölbe gleiten. Auf der linken Seite ganz vorn, brav und mucksmäuschenstill die Klassen eins bis vier der Friedrich-von-Spee-Grundschule. Dahinter die Unterstufe des Adalbertinums.

      In Klasse 5b stieß Freddie Jan in die Seite und flüsterte: „Guck mal, die Grafen!“

      „Quatsch, das sind Barone.“

      Lisa kicherte: „Hat die aber ein bescheuertes Kleid an.“

      „Pssst!“ Das war Anke Rufus, die ihre Schüler von der allerbesten Seite präsentieren wollte. Also ebenfalls mucksmäuschenstill.

      Die folgenden Bankreihen ertrugen einen ungeordneten Haufen Schüler höherer Klassen unter den wachsamen Augen von Direktor Zuffhausen. Vier Vincentinerinnen vom Vincenzkrankenhaus versteckten sich dahinter. Eine weitere Reihe füllte sich mit den Betreibern der besten Eisdiele weit und breit. Annamaria und Giacomo Favretti und ihre bereits volljährige Tochter Franka, neben die sich Elfriede Sievers (wie immer im braunen Kamelhaarmantel) und ihr Oskar pflanzten. Die Damen-Doppelkopfrunde Hilde Pomsell, Ludmilla Reisich, Martina Dall und Monika Ziehar rutschte neben Sparkassendirektor Schönemann und Kaufhausbesitzer Fridolin Rausch. Dahinter mit leicht angestrengter Miene Hauptkommissar Franz van der Velde und mit leicht abwesendem Blick auf den Hinterkopf von Franka Favretti sein Assistent Hinrich. Es folgten noch ein paar Reihen Eltern und sonstige Breselner. Den Abschluss bildeten traditionsgemäß die Vertreter der Handwerksberufe. Frisör Fernandel, Bäcker Blume, Schneider Böck und Totengräber Todd Emmerich, dem wie üblich die Augen schon zufielen, sobald er seinen betagten Rücken an die Kirchenbank lehnte.

      Alle da? Dann konnte es ja losgehen. Pastor Ambros Himmelmeyer schloss die Kirchentür und gab dem Herrn Bächle einen Wink. Der griff in die Tasten der Sankt-Urban-Orgel und stimmte jenes herzerweichende und augenbefeuchtende Kirchenlied an, in das die versammelte Gemeinde mit Wonne einfiel: Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh der ewigen Heimat zu.

      Nach anderthalb Stunden hatten die Breselner genug fürs Seelenheil getan. Die Schützenkapelle nahm im Mittelgang Aufstellung, spielte den berühmten Breselner Defiliermarsch und wanderte zum Marktplatz hinaus. Das Volk folgte und vergnügte sich den restlichen strahlenden Maitag zwischen Kirmesbuden und Karussels, Zapfhähnen und Würstchenbratereien. Die höheren Klassen des Adalbertinums führten ein Ritterspiel um den Marktbrunnen auf, das Ritter Kunibald von Knittel schmunzelnd begutachtete. Wie gern hätte er mitgetan. Freddie stand auf dem Brunnenrand und klopfte Kunibald auf die eiserne Schulter. Tja, vorbei ist vorbei.

      Freddies Blick fiel auf den rauchenden Florian-Mönch, der vor dem Kirchenportal stand und sich mit dem alten Fritz unterhielt. Fritz kramte umständlich etwas aus seiner Hosentasche. Was das war, konnte Freddie auf die Entfernung nicht erkennen. Damit fuchtelte der Alte dem Mönch vor der Nase herum. Angewidert wich der Kapuzenmann zurück. Schließlich zog er ein paar Geldscheine aus seiner Kutte. Fritz ergriff sie hastig. Als jenes Ding in Fritzens Hand den Besitzer in umgekehrter Richtung wechselte, blitzte es kurz in der Maisonne auf.

      Etwas kleines Rotes, dachte Freddie, hätte das aber nicht beschwören können. Fritz packte die Hände des Mönchs und schüttelte sie überschwänglich. Dann verschwand er im Gewühl. Freddie schaute der Mönchskapuze nach, bis sie in die Altstadtgassen einbog. Richtung Kloster.

      Soso, dachte Freddie. Was für Geschäfte macht ein Mönch mit der alten Triefnase Morchel? Und viel später glaubte Freddie sich zu erinnern, dass er in diesem Moment zum ersten Mal ein ungutes Gefühl gehabt hatte. Dass etwas in Bresel nicht stimmte. Als ob das Sonnenlicht eine falsche Färbung bekommen hätte. Vielleicht lag das auch nur daran, dass ihm der alte Fritz (wie den meisten Breselnern) unheimlich war. Oder dass er in der Kirche zu lange Agathe angestarrt und an das Rattengift in ihrem Keller gedacht hatte.

      Freddie gab Kunibald einen Nasenstüber und sprang vom Brunnenrand. Wo waren bloß Jan und Lisa abgeblieben? Freddie fand sie an der Wurfbude, und die Sonne hatte wieder ihren alten Glanz.

      Punkt 20 Uhr dirigierte Aloisius Schwobenhammer die Schlussfanfare der Schützenkapelle – die zum Glück nicht so spielte, wie Aloisius mit den Armen ruderte – und wünschte seinen lieben Breselnern noch einen stolperfreien Heimweg und eine geruhsame Nacht.

      Nur ein Häuflein mehr oder weniger aufrechter Mitglieder des Musikzuges belagerte Bierbudenbesitzer Bruno Brubeck bis weit nach Mitternacht.

      Und – wie konnte es auch anders sein – dieses Häuflein erschien am nächsten Morgen auf die allerletzte Sekunde vor zehn zum großen Platzkonzert der Schützenkapelle auf dem Marktplatz. Das war ein Tuten und Blasen, dass es die Vögel an den Stadtrand trieb, und Ritter Kunibald froh war, dass eiserne Ohren nicht platzen konnten.

      Nach einer guten Stunde hatte sich ganz Bresel in festlicher Stimmung vor dem Rathaus versammelt. Von dort ging's mit Tschingderassassa und Rummtata die Serpentinen der Breselbergstraße hinauf zur Burg.

      Kurz vor zwölf zogen die Breselner über die Knittelsteiner Zugbrücke, wo sie bereits erwartet wurden. Die ganze Festung war prächtig hergerichtet. Hoch auf dem Bergfried und ringsum auf den Wehrtürmen knatterten Fahnen im Wind. Girlanden und Laternen hingen an den Zinnen und schmückten die Torbögen. Aus den Fenstern des Palas begrüßten Fanfarenbläser die staunenden Gäste.

      Neben der Treppe zu den Museumsräumen brutzelte Köchin Emma ein goldbraunes Wildschwein am Spieß. Der Duft zog verführerisch über den Hof und ließ den Breselnern das Wasser im Munde zusammenlaufen. Oskar Sievers' Magen knurrte so vernehmlich, dass Elfriede ihm einen vorwurfsvollen Blick zuwarf.

      Schauspieler in blitzenden Ritterrüstungen füllten Krüge mit Orangensaft für die Kinder und mit Gerstensaft für die Älteren. Und eine Musikantentruppe, die auf den lieblichen Namen Henkersmahlzeit hörte, gab mittelalterliche schwäbische Tänze zum Besten – die teilweise weder mittelalterlich noch schwäbisch waren, wie Rubens Bogdanovs gespitzte Ohren bemerkten. Allen anderen Ohren war das wurscht.

      Links und rechts vom Torhaus standen Baron Eduard und Clemens Zuffhausen und schüttelten die Hände vom Bürgermeister und Sparkassendirektor, vom Hauptkommissar und Kaufhausbesitzer, Eisverkäufer, Bäckermeister, Schneider, Schuster, Metzger und Frisör und allem, was in Bresel Rang und Namen hatte. Der Hof füllte sich rasch mit Stimmengewirr und Kindergeschrei und platzte bald aus allen Nähten.

      Mittendrin stand Jo und spuckte gelangweilt in den Burgbrunnen. Sie sah ihren bescheuerten Cousins Kurt und Knut zu. Die Zwillinge versuchten, die Henkersmahlzeit zum Lachen zu bringen. Es war zum Heulen. Gestern bereits waren die beiden Stimmungskanonen hereingeschneit. Mitsamt ihren Eltern. Jo klangen noch Tusneldas Ermahnungen im Ohr: „Dass du aber auch schön mit deinen Cousins spielst!“ Tante Adelgunde hatte dazu überaus freundlich gelächelt, und Onkel Humbert stank daneben wie der Lackladen, für den er arbeitete.

      Später, nachdem sich Jo standhaft geweigert hatte, das Burgfräulein am Spinnrad zu geben, hatten die Zwillinge versucht, sich mit Sticheleien über Fräulein von Oelmütz und Jos Privatgeigenlehrer an ihr zu rächen. Als sie einsehen