Gerhard Gemke

Die hohle Schlange, das Labyrinth und die schrecklichen Mönche von Bresel


Скачать книгу

die Felsen. Schemenhaft waren die Eisenringe an den Wänden zu erkennen. Jo rieselte ein Schauer über den Rücken. Sie musste an die Eingekerkerten denken, von denen ihr Vater erzählt hatte, als er Jo vor drei Jahren bis hierher mitgenommen hatte. Die Ritter waren durchaus keine freundlichen Zeitgenossen gewesen. Nur: an einen Labyrintheingang konnte sie sich nicht erinnern.

      Jo knipste ihre Taschenlampe an. Von Oskar Sievers war weit und breit nichts zu hören oder zu sehen. Sie betrat die erste Zelle, die einzige mit einem winzigen Gitterfenster. Eine Maus oder so floh vor ihren Füßen und verschwand in einer dunklen Ecke. Jo ließ den Lichtkegel über grob behauene Wände gleiten. Wasserspuren schlängelten an unleserlichen Namen und Jahreszahlen vorbei, mit denen sich frühere Besucher verewigt hatten. Krähenschreie wehten durch das Fenster herein. Sonst war es totenstill.

      Langsam kehrte sie in den Raum mit der rußigen Decke zurück und nahm sich Verlies Nummer zwei vor. Mit Abstand die kleinste Zelle. Zwei verbogene Ringe baumelten an der hinteren Wand und ein Stück Kette verrostete am Boden. Mehr nicht. Auch von hier führte kein Weg in den Berg. Jo trat gegen das Kettenglied. Klirrend verscheuchte es eine fette Spinne. Jo flüchtete angeekelt aus der Kammer. Blieb noch Verlies Nummer drei.

      Der letzte Kerker war etwa so groß, wie der erste mit dem Gitterfenster. Und eine einzige Müllhalde. Ein halb verfaultes Weinfass lag dort, Reste von zwei Holzschemeln, eine löchrige Matratze und – Jo staunte nicht schlecht – drei zerbrochene Bierflaschen. Breselbräu naturtrüb. Wahrscheinlich Oskars Hausmarke. Nur von dem Alten keine Spur. Blitzschnell drehte sich Jo um. Niemand stand hinter ihr.

      Enttäuscht rollte sie das stinkende Fass mit dem Fuß beiseite. Eine Horde Kellerasseln nahm Reißaus. Jo folgte ihnen mit dem Lichtkegel der Taschenlampe. Sie verkrochen sich hinter ein paar morschen Brettern, die an der Rückwand lehnten – und daneben klaffte ein pechschwarzes Loch in den Felsen, etwa doppelt so groß wie das vermoderte Fass. Jo hätte fast geschrien. Natürlich hatte sie das Loch damals nicht bemerken können. Die Bretter hatten es verdeckt. Jo umklammerte ihre Taschenlampe wie den Griff eines Schwertes und hielt sie hinein.

      Eine dunkle Röhre bohrte sich in den Berg. Rissige Felsen warfen gezackte Schatten, schmale Rinnsale liefen an unzähligen Stellen herab. Jos Herz klopfte. Das war er also! Der Einstieg ins Knittelsteiner Labyrinth! Aus der Dunkelheit kroch die Stille des Berges wie ein lebendiges Wesen. Schnaufte da Oskar Sievers in den Felsen? Es war bloß ihr eigener Atem. Jo leuchtete umher. Was konnte schon passieren? Die Burg stand seit tausend Jahren. Behutsam setzte sie einen Fuß auf den Pfad. Dann den zweiten. Ein paar Schritte und Jo blickte zur niedrigen Decke. Jetzt war sie umschlossen von den mächtigen Felsen des Breselbergs.

      Tiptiptip. Irgendetwas flüchtete in die Dunkelheit. Jo lauschte. Es blieb still. Sie streckte den Arm mit der Taschenlampe vor und ging weiter. Nach etwa zehn Metern knickte der Gang nach rechts. Ein zweiter Bogen folgte, viel kürzer, in die andere Richtung. Er mündete in einer niedrigen Höhle. Zögernd ging Jo hinein. Kalkzapfen hingen an der Decke. Von ihren Spitzen fielen Wassertropfen und zerplatzten mit leisem scharfen Knall auf den Felsen. Ansonsten war die Höhle leer. Jo lauschte in die Dunkelheit. Ihr Blut pochte in den Ohren. Nichts deutete darauf hin, dass hier jemals ein menschliches Wesen durchgekrochen war.

      Oder doch! Der Strahl der Taschenlampe erwischte eine handgroße dunkle Stelle am Höhlenboden. Jo kniete sich hin. Halb verdeckt von einem Felsvorsprung klebte ein Lehmrest in einer Bodenvertiefung. Da hinein gruben sich gleichmäßige Rillen. Der Abdruck einer Stiefelsohle. Oskar Sievers!

      Jo blickte auf. Hinter dem Vorsprung befand sich eine seltsame Öffnung in der Wand. Nach oben liefen die Seiten schräg zusammen und bildeten ein Dreieck. Dahinter führten steile Stufen zwischen wuchtigen Granitblöcken abwärts. Es gab keinen anderen Weg. Die Batterien waren frisch und würden halten.

      Jo kletterte hinunter. Entschlossen ballte sie die Faust um die Taschenlampe. Eine Hand tastete an der feuchten Felswand entlang, die andere versuchte den Lichtstrahl ruhig zu halten. Nach wenigen Stufen schon bemerkte sie einen Luftzug, als atmete der Berg.

      Die Treppe endete nach der achtundzwanzigsten Stufe und der Stollen teilte sich. Die Erklärung für den Luftzug war einfach. Eine der Röhren führte direkt aus dem Gebirge ins Sonnenlicht. Ein warmer Wind wehte von dort und strich über Jos Gesicht.

      Als sie nach links schaute, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Keine Handbreit trennte ihre Fußspitzen vom Rand eines pechschwarzen Schachtes, geradewegs ins Bodenlose, weiter als der Schein der Taschenlampe reichte. Jo starrte hinunter, ihr Blick fand nirgends Halt. Und langsam begann sich der tiefste Punkt, den sie erahnen konnte, zu drehen. Erst unmerklich, dann immer schneller und schneller. Erschrocken wich Jo zurück und klammerte sich an die kalten Felsen.

      Als der Schwindel verflogen war, wagte Jo einen zweiten Blick hinein. Da entdeckte sie die Haken. Jemand hatte Bergsteigerhaken in den Fels geschlagen und ein starkes Tau daran befestigt, das sich in die lichtlose Tiefe schlängelte. Jemand? Oskar, wer sonst!

      Jos Taschenlampe zitterte. Ein Windstoß erinnerte sie an das Felsenfenster. Nur wenige Schritte entfernt öffnete es sich in die Juniluft. Als sie dort ankam, bot sich ihr ein weiter Blick über das Breselner Land auf Großhorn und Rotspitz. Ein Blick, den sie nur zu gut kannte. Wie aus ihrem Turmzimmer, nur etliche Meter tiefer. Jo ahnte, wo sie sich befand: Mitten in den Südklippen, direkt über jenem Felsvorsprung, der von den Kletterern so ängstlich gemieden wurde. Der Teufelsnase.

      Das Breselner Land lag friedlich in der Mittagshitze. Ein Schwarm Vögel flog kreischend vorbei. Jo streckte sich, machte einen Schritt zurück und trat ins Leere. Rücklings krachte sie gegen eine Felswand. Sie versuchte, sich an den Steinen festzukrallen. Ihre Schultern rutschten an scharfen Graten entlang. Sie fiel und knallte auf harten Fels. Schmerzhaft, aber zum Glück schon nach einem halben Meter. Ihr Herz hämmerte wild. Hastig schaute sie sich um. Stufen! Eine Steintreppe hinab in die nachtschwarze Tiefe. Jo rieb ihre linke Schulter, die wie Feuer brannte.

      Und plötzlich war da dieses Geräusch. Ein tiefes Brummen. Als wäre ein Motor angesprungen. Jo stemmte sich hoch. Jetzt vernahm sie deutlich ein Knirschen, das näher kam. Wie Schritte auf Kies oder bröckelndem Fels. Blitzschnell war Jo auf den Beinen und rannte los. An dem Schwindelloch vorbei, die Steinstufen hinauf, bis zur Höhle mit dem Stiefelabdruck. Hier hielt sie an. Von Oskar Sievers war nichts mehr zu hören. Jo atmete wieder ruhiger.

      Sie erreichte das dritte Verlies und durchquerte den rußgeschwärzten Vorraum bis zu der Schießscharte. Der Burggraben lag im trägen Sonnenlicht. Schwalben glitten im Sturzflug zu ihren Nestern in Mauerlücken, Überbleibsel von früheren Belagerungen. Nur zu gern hätte Jo gewusst, ob Oskar mehr gefunden hatte, als die paar düsteren Gänge, die sie gesehen hatte. Er war ja oft genug dort unten gewesen.

      Vielleicht würden doch schon bald die ersten Touristen die Folterkammern knipsen. Dann würde Jo die Verliesführerin geben. „Meine Damen und Herren, hier schmachtete Dagobert von Tupfingen seinem wohlverdienten Ende entgegen.“ Kurzbehoste Dickbäuche würden ihr die Taschen mit Trinkgeld füllen, und im Kaufhaus Rausch könnte sie mit ihren neuen Reichtümern die Regale plündern. Jawohl!

      Da brummte es wieder. Und gar nicht weit entfernt. Ein Breselner Wanderlied glaubte Jo zu erkennen. Oskar musste schon die Fußabdruckhöhle erreicht haben. Jetzt aber nichts wie raus hier! Doch da hatte sich Jo verrechnet, denn im selben Augenblick wurde oben an der Treppe die Tür aufgerissen.

      „Herr Sievers!“ Ein vertrautes Organ peitschte durch die muffige Kerkerluft. Aus dem dritten Verlies antwortete ein unwirsches „Was gibt's denn?“

      Jo sah sich um. Sie saß in der Falle. Mit drei Schritten stand sie in der nächstgelegenen Kammer. Die mit dem vergitterten Fenster. Sie kauerte sich in die dunkelste Ecke und umklammerte einen der Eisenringe. Inzwischen hatte Tusnelda den Fuß der Treppe erreicht.

      „Herr Sievers!“

      Jo hatte das Gefühl, einen Schlag ins Genick zu bekommen. Vermutlich ging es dem Herrn Sievers nicht anders.

      „Haben Sie Neuigkeiten für mich?“

      „Frau Baronin, wie ich Ihnen schon sagte …“, brummte Oskar.

      „Herr