Norman Dark

China Blues


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      Norman Dark

      China Blues

      Zirkus der Geister

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      Inhaltsverzeichnis

       Titel

       Prolog

       2.

       3.

       4.

       5.

       6.

       7.

       8.

       EPILOG

       Impressum neobooks

      Prolog

      PROLOG

      Noch heute schrecke ich manchmal nachts hoch, weil ich mich im Traum als sechsjähriges Mädchen sehe, dessen Augen vor Schreck geweitet sind, denn es kann nicht begreifen, dass der geliebte Vater im Sand der Manege liegt und nicht mehr aufsteht. Ich will zu ihm hineilen, aber meine Mutter zieht mich an der Hand fort und versucht, mich zu beruhigen. In dieser schrecklichen Novembernacht des Jahres 1993 weinte ich mich in den Schlaf, der nur kommen wollte, als mir meine Mutter ein leichtes Beruhigungsmittel verabreicht hatte.

      Fortan erhielt ich öfter Besuch von meinem lieben bàba. Seine Gestalt war dann immer fast durchsichtig, und niemand sonst als ich schien ihn zu sehen. Er sprach nicht mir, leider. Nur seine Augen blickten traurig und sorgenvoll. Ich wäre gerne zu ihm hingelaufen, aber etwas hielt mich stets davon ab.

      Einige Wochen später wurde meine kleine Welt vollends erschüttert, als auch meine māma nicht mehr da war. Sie sei sehr krank gewesen und jetzt im Himmel, hieß es immer, wenn ich nach ihr fragte. Wie sie wirklich gestorben war, sollte ich erst viel später erfahren, weil man einem Kind die grausame Wahrheit nicht zumuten konnte.

      Ab diesem Zeitpunkt war ich ganz allein, wenn man von den auf dem Land lebenden Großeltern und den anderen Mitgliedern der Zirkustruppe wie shū Wáng Jun und seine Frau āyí Wáng Bao absieht, die ich schon immer Onkel und Tante nannte, ohne mit ihnen wissentlich verwandt zu sein, und die künftig an die Stelle meiner Eltern treten sollten. Mit ihnen und ihren Kindern verband mich die Liebe zum Zirkus und insbesondere zum Trapez, denn es war immer mein Traum gewesen, eine ebenso berühmte Artistin zu werden wie mein bàba.

      1.

      Ich heiße Meilin und kam im September 1987 zur Welt, bin also im Sternzeichen des Hasen geboren, wobei die Sternzeichen in China für ein ganzes Jahr gelten. Ich hätte also auch im Februar oder Dezember auf die Welt kommen können und wäre trotzdem ein „Hase“ geworden. Hasengeborenen sagt man oft eine gewisse Schüchternheit nach, aber sie sollten dennoch nicht unterschätzt werden. Da sie genau wissen, was sie wollen und sich mitunter von hinten herum durchsetzen, sagt man ihnen sogar Verschlagenheit und Hinterlist nach, dabei sind sie nur sehr schlau und gehen ziemlich raffiniert vor. Als gute Menschenkenner kann es ihnen dennoch passieren, dass sie von anderen getäuscht und ausgenutzt werden.

      Ich habe immer geglaubt, dass mein schweres Schicksal mich sensibel und dünnhäutig gemacht habe, dass mein wechselhaftes Verhalten, das anderen mitunter launisch und abweisend erscheint, auch daher rühre. Umso erstaunter war ich, dass diese Wesenszüge recht typisch für die im Sternzeichen Hase Geborenen, also mir schon in die Wiege gelegt worden sind.

      Es mag vielleicht seltsam anmuten, dass ich als häuslicher „Hase“, die normalerweise viel Wert auf eine vertraute Umgebung und Sicherheit legen, meinte, genau das in dem Mikrokosmos eines Wanderzirkus gefunden zu haben. Ein Milieu, das anderen als unstet bis chaotisch und mehr als unsicher erscheint, aber ich kannte nichts anderes als den gemütlichen, mit Laternen und Seidenkissen geschmückten Wohnwagen meiner Eltern, der für mich Heimat und Geborgenheit bedeutete. Auch gab es eine starke Verbundenheit zwischen den Artisten, Künstlern und Dompteuren, die schließlich alle am selben Strang zogen – dem Publikum ein abwechslungsreiches und faszinierendes Programm zu bieten, das es nicht so schnell vergaß.

      Natürlich gab es auch weniger schöne Aspekte wie Streit, Missgunst und Eifersucht, bis hin zu kleinen Tragödien, wie überall, wo Menschen auf engem Raum zusammenkommen, aber dazu später.

      Meine schöne Mutter, die ich wie viele Kinder auf der Welt māma nannte, hieß noch Xu Chan, als mein Vater Jian Yan sie aus der bäuerlich dörflichen Umgebung in die schillernde Welt des Zirkus holte. Ein Umstand, den ihm mein Großvater Xu Minh nie verzieh, den ich wie die meisten chinesischen Kinder ihre Großväter lao ye nannte, wenn es sich um den Vater der Mutter handelt. Nach ihrer Heirat hieß meine Mutter also nun Jian Chan, denn ihr Vorname war Chan, und in China wird der Familienname immer zuerst genannt.

      Es dauerte mehrere Jahre, bevor meine Mutter den Mut fand, ihr Elternhaus zu besuchen. Lao ye wollte sie auch zunächst nicht hereinlassen. Erst als Großmutter Xu Ai, von mir lao lao, dem chinesischen Namen für Großmutter, genannt, zu weinen anfing und ihre Arme nach mir ausstreckte, in die ich trotz meiner sechs Jahre förmlich flog, löste sich der versteinerte Gesichtsausdruck von lao ye. Großmutters Vorname Ai bedeutet nicht umsonst Liebe.

      Nachdem lao ye auch mit Vater Frieden geschlossen hatte, kamen wir so oft wie möglich zu Besuch. Eigentlich immer dann, wenn wir in der Nähe ein Gastspiel hatten. Ich liebte lao ye’s Geschichten von längst vergessenen Kulturen, deren einziger Zeuge oft nur die Bauten waren, die kaum noch jemand recht zuordnen konnte.

      Mutters Heimatdorf hieß nämlich Qiang Xian und lag etwa achtzig Kilometer nordwestlich von Xi’an, der ersten Hauptstadt des Kaiserreichs China in der Qin-Dynastie. Heute ist sie die Hauptstadt der Provinz Shaanxi. In ihr befindet sich die Universität Nordwestchinas. Einst war sie der Ausgangspunkt der Seidenstraße und ihre Stadtmauer ist nahezu vollständig erhalten. Seit der Entdeckung des Mausoleums Qín Shǐhuángdìs ist Xi’an der Ausgangspunkt für Besichtigungen der berühmten Terrakotta-Armee.

      Xi’an rückte Mitte der 80er Jahre in das Interesse der Weltöffentlichkeit, denn es waren Berichte über Pyramiden erschienen, die sich in einem Radius von hundert Kilometern bei der Stadt befinden. Die chinesischen Behörden gaben unter dem Druck der Öffentlichkeit an, dass es sich um Grabhügel von Herrschern der westlichen Han-Dynastie handelt.

      Schon Ende der 70er Jahre hatte man in einem der pyramidenähnlichen Hügel das Mausoleum Qin Shihuangdis entdeckt, dem Grabmal des ersten chinesischen Kaisers und einem der weltweit größten Grabbauten, das bekannt für seine Soldatenfiguren, die Terrakotta-Armee ist. Zu der Anlage gehören mehrere Gruben, in denen man Pferdenachbildungen aus Ton, bis hin zu bronzenen Streitwagen fand. Aber ein Kuriosum ist, dass bisher erst ein Viertel der gesamten Anlage freigelegt und der Grabhügel selbst noch unangetastet ist.

      Lao ye konnte mir trotzdem darüber berichten, wie es in dem Grabmal aussah, denn obwohl er nur ein einfacher Bauer war, interessierte er sich für die Geschichte seiner Heimat und kannte uralte Überlieferungen wie das etwa 100 v. Chr. geschriebene Werk Shiji des