Norman Dark

China Blues


Скачать книгу

dann neben Wáng Jun stehen sah, wenn der Scheinwerfer auf seine Frau gerichtet war. Wanderte er hingegen zu Wáng Jun zurück, schien er alleine dort zu stehen. Damals wusste ich noch nicht, dass māma genau an dieser Stelle gefunden worden war. Als die Wángs unter tosendem Applaus abgingen, schaute ich noch einmal nach oben, aber māma war nicht mehr da.

      Enttäuscht ging ich nach draußen vor das Zelt und schaute in den Sternenhimmel. Ob māma wohl von dort gekommen und jetzt wieder dahin zurückgekehrt war? Plötzlich sah ich ein schwaches Glimmen und eine Bewegung an unserem Zirkuswagen. Auf dem Weg dorthin wurde der Lichtschein stärker. Der Lärm der Vorstellung und die Geräusche der Tiere klangen auf einmal weit entfernt, als habe sich durch die Aufregung ein Wattepfropfen vor meine Ohren gelegt.

      Und dann sah ich sie auf der Treppe sitzen. Ich rannte auf sie zu und flog in ihre weit ausgebreiteten Arme. Für einen Moment schien die Welt still zu stehen. Alles war nur noch selige Umarmung. Leider war der Augenblick sehr schnell wieder vorbei, denn als ich die Augen wieder öffnete, saß ich allein auf der Treppe. Seltsamer Weise fing ich nicht vor Enttäuschung zu weinen an. Im Gegenteil, ich musste einen derart verklärten Ausdruck in meinem Gesicht haben, dass es den Zwillingen sofort auffiel, als sie nach ihrer Seilakrobatik nach mir suchten.

      »Was ist mit dir, du siehst so seltsam aus?«, fragte Mimi.

      »Warum hast du nicht unseren Auftritt angesehen?«, wollte Zuko wissen.

      »Meine māma hat mich gerade besucht und in den Arm genommen«, sagte ich frei heraus.

      »Oh, das ist wunderbar«, meinte Mimi und umarmte mich herzlich.

      »Bist du sicher?«, fragte Zuko skeptisch, »ich meine, heute am Zhongyuan, erwartet man so etwas geradezu und kann sich allerlei einbilden.«

      »Sei nicht so hässlich zu Meilin«, sagte Mimi böse, »sie lügt uns bestimmt nicht an.«

      »Das behauptet ja auch keiner. Lüge und Einbildung sind zweierlei.«

      »Sie war da. Ich konnte sie spüren und riechen. Vorher habe ich sie oben auf dem Trapez gesehen.«

      »Da, wo …bàba immer steht?«, hakte Zuko nach.

      Ich nickte heftig.

      »Alles klar, ich gehe mich dann mal umziehen.«

      »Lass ihn«, sagte Mimi, als ich Zuko aufhalten wollte, »er spielt nur den Coolen. In Wahrheit findet er, was du erlebt hast, ebenso wundervoll wie ich. Aber als Junge will er das nicht zugeben.«

      »Manchmal denke ich, dass Zuko nicht sehr glücklich darüber ist, dass wir jetzt zusammenleben«, sagte ich vorsichtig.

      Mimi lachte schallend. »So sehr lässt du dich von ihm ins Bockshorn jagen?« Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Mein Brüderchen ist ganz verrückt nach dir. Das war er schon immer. Er hat wahre Freudentänze aufgeführt, als er hörte, dass wir künftig einen Wagen für uns allein haben. Aber das behältst du für dich, hörst du? Er würde mir nie verzeihen, dass ich dir das verraten habe.«

      »Ich glaube, ich muss jetzt ein bisschen allein sein. Das war heute alles etwas viel. Erst der Besuch von māma, und jetzt noch dein Geständnis«, sagte ich leise. »Bitte versprich mir, dass ihr niemandem erzählt, was ihr von mir erfahren habt.«

      »Ehrensache, das bleibt unser Geheimnis.« Mimi gab mir einen Kuss und lief die Treppe hinauf in den Wagen. Ich war viel zu aufgekratzt, um ihnen folgen zu können, und lief noch eine Weile auf dem Gelände herum, um mich anschließend in eine dunkle Ecke zu setzen. Ich hatte über vieles nachzudenken. Ob māma mich jetzt ebenso wie bàba öfter besuchen würde? Und warum war sie so schnell wieder fort gewesen? Hatte man ihr nur kurze Zeit gewährt? Fragen, auf die ich keine Antwort fand. Und dann noch Mimis Geständnis. Sollte Zuko wirklich mehr für mich empfinden als er zugab? Und wie ging ich damit um? Eigentlich war ich viel zu jung, um schon an Jungs zu denken. War es nicht eher hinderlich, wenn er mehr als die Schwester in mir sah? Auch darauf fand ich keine Antwort. Die Zukunft würde zeigen, wie sich alles entwickelte.

      Als ich später in den Wagen zurückkehrte, schliefen beide schon fest, oder taten zumindest so. Ein Umstand, der mir mehr als recht war. Ich musste erst einmal im wahrsten Sinne des Wortes darüber schlafen und dem Chaos in meinem Innern Herr werden.

      In jenen heißen Julitagen schien „Pangu“ unaufhörlich zu lachen. Denn anders als in Europa, wo man davon spricht, dass die Sonne lacht, ist es der chinesischen Mythologie nach das Urwesen Pangu, geboren aus einem Hühnerei. Dem Buch San-wu-li-Ki aus dem 3. Jahrhundert. n. Chr. nach soll es am Anfang weder Himmel noch Erde gegeben haben, sondern nur Chaos in Form eben jenes Hühnereis, erfuhren wir von āyí Hong Hui, als wir sie nach der Entstehung der Welt fragten. Aus den leichten Teilen soll sich die Urkraft Yang und der Himmel gebildet haben, aus den gröberen Teilen die Urkraft Yin und die Erde. Die Legende sprach davon, dass sich Pangu später selbst geopfert habe. Aus allen Teilen seines Körpers sei etwas Sinnvolles entstanden wie Sonne und Mond aus den Augen, die weißen Berge aus dem Kopf, Flüsse und Meere aus dem Fett und die Pflanzen aus den Haaren des Körpers. Wenn die Sonne schien, lachte Pangu, gab es auf Erden Stürme und Regen, war er traurig oder zornig, hieß es.

      Einer anderen Version nach soll es am Anfang ein höchstes, göttliches Wesen und die Chaoswasser gegeben haben. Auf seinen Befehl hin teilten sich diese in zwei Teile, in Yin, das Dunkle, Unbewegliche, und Yang, das Lichtvolle, Bewegliche. Zusammen bildeten sie als aktive und passive Urkraft des Universums den Kosmos, die Lebewesen wie Menschen und Tiere und all die anderen Dinge. Yang wurde zum Himmel, dem Wohnsitz der Götter, und Yin zur Erde, dem Lebensraum der Menschen und Tiere. Das männliche Geschlecht entstand aus der Kraft des Yang, das weibliche aus der Kraft des Yin.

      Einer dritten Version nach, die uns Kindern besonders gefiel, gab es in der Wüste des Nordens einen roten Drachen, mit dem Gesicht eines Menschen. Tag wurde es, wenn er die Augen öffnete, Nacht, wenn er sie schloss. Wind und Sturm entstanden durch seinen Atem, im Sommer hielt er den Atem an, im Winter blies er kalte Luft. Deshalb fürchteten und verehrten die Menschen diesen Wetterdrachen, da sie von ihm abhängig waren.

      Nun, egal, ob Pangu schallend lachte, oder der Wetterdrache den Atem anhielt, der Sommer war in diesem Jahr jedenfalls unerträglich. Am Tag suchten alle ein schattiges Plätzchen, und in den kühleren Abendstunden riss man alle Fenster auf, um Durchzug entstehen zu lassen. Ich war froh, noch nicht für eine feste Nummer im Programm eingeplant zu sein, denn die Scheinwerfer im Zirkuszelt heizten die Luft noch mehr auf. Zwar übte ich beinahe täglich mit Wáng Jun, dem ehemaligen Partner meines Vaters, aber das spielte sich noch in niedriger Höhe ab. Der Zenit, die Trapezaufhängung in der Zirkuskuppel lag für mich noch in weiter Ferne, um jedes Risiko auszuschließen. Zwar wollte ich meinem bàba nacheifern, was das Können und den sensationellen Auftritt anging, aber keinesfalls durch einen ebenso tragischen Unfall enden.

      Als ich mir außerhalb des Zeltes etwas Abkühlung verschaffte, hörte ich unfreiwillig eine Unterhaltung zwischen Li Ying und Li Bo mit. Beide waren miteinander verheiratet und traten gemeinsam mit einer Jongliernummer auf.

      »Was war heute mit dir los?«, fragte Li Ying seine Frau, »ich habe dich selten so unkonzentriert erlebt. Um ein Haar hättest du die Nummer geschmissen, weil immer mehr Teller herunterzufallen drohten.«

      »Ja, es tut mir leid. Ich musste immer an gestern Abend denken. Du hast doch auch die arme Jian Chan gesehen. Auch wenn ihre Erscheinung stets durch den Lichtkegel verblasste, war nicht zu übersehen, was sie am Hals trug, bestimmt kein Collier.«

      »Das bildest du dir ein. Aus der Entfernung hättest du das gar nicht sehen können. Es ist nur das Wissen darum, was dich geängstigt hat.«

      »Das musst du gerade sagen, deiner Beschreibung nach sah Jian Yan auch nicht gerade friedlich aus.«

      »Das war dumm von mir, es dir gegenüber zu erwähnen, entschuldige. Ich habe mir doch tatsächlich für einen Moment eingebildet, dass sein Gesicht hassverzerrt war.«

      »Glaubst du, er ist ein Dämon geworden, der anderen Übles will?«

      »Nein, nicht wirklich,