Norman Dark

China Blues


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bis zu dem allerdings noch mindestens drei Jahre vergehen mussten.

      Dass mit Löwen, besonders mit Muttertieren, nicht zu spaßen war, zeigte eine Begebenheit, die mich noch heute mit Grauen erfüllt. Nach einer Vorstellung hatte sich ein angetrunkener Bursche unbemerkt den Löwenkäfigen genähert. Um seinen Mut zu beweisen und seiner Freundin zu imponieren, hatte er sich in den Kopf gesetzt, eines der niedlichen Babys dem Mädchen zum Streicheln auf den Arm zu geben. Daraufhin hatte sich die Löwin völlig außer sich auf ihn gestürzt und seinen Arm zu fassen bekommen, weil der Bursche in seinem angeheiterten Zustand in der Reaktion eingeschränkt war. Zirkusarbeiter konnten ihn auf seine Hilferufe hin zwar noch wegziehen, aber nicht verhindern, dass ihm der rechte Arm abgetrennt wurde. Durch den Schock empfand der junge Mann wohl in diesem Moment nicht einmal Schmerzen, aber ich werde nie die Schreie und die vor Angst aufgerissenen Augen des Mädchens vergessen.

      Zuko entwickelte sich zu einem richtigen kleinen Kavalier. Er überhäufte mich mit Aufmerksamkeiten und Geschenken, sodass ich an Mimis Einschätzung nicht länger zweifeln konnte. Er schien mich wirklich zu mögen und vielleicht sogar ein wenig verliebt in mich zu sein, was er unter keinen Umständen zugegeben hätte. Jungen interessierten mich in diesem Alter noch nicht, deshalb genoss ich zwar seine Zuneigung, war aber weit davon entfernt, mit ihm Zärtlichkeiten auszutauschen. Zukos Schüchternheit verhinderte dies ohnehin, da hätte ich schon den Anfang machen müssen. Wir verhielten uns mehr wie gute Kumpel zueinander und trainierten fleißig gemeinsam, hatten wir doch beide dasselbe Ziel: einmal berühmte Trapezkünstler zu werden.

      Mit ihm konnte ich schöne Gespräche führen, die anders als mit Mimi, keine Mädchenthemen berührten. Mitunter schien er sogar zu vergessen, dass ich ein Mädchen war und ängstigte mich mit seinen Geschichten, die wie bei den meisten Jungs nicht unheimlich und blutrünstig genug sein konnten. Der Bericht über den Angriff der Bärin Juan auf den Affen stammte schließlich auch von ihm. Er witterte überall die kopflosen Yü kuang - Geister oder die langhaarigen Echogeister Wang ling mit Kindergestalt. Wenn er dann auch noch mit den leichenfressenden Wang xiang anfangen wollte, gebot ich ihm aber Einhalt.

      Er behauptete ernsthaft, dass unser Zirkus unter keinem guten Stern stünde und hinter vorgehaltener Hand der „Geisterzirkus“ genannt wurde. So hatte es angeblich schon lange vor dem Tod meiner Eltern seltsame Todesfälle gegeben.

      »Vor vielen Jahren ist hier mal ein Feuerspucker aufgetreten«, begann er mit ernstem Gesicht, »ja, ich weiß, dass die nicht wirklich Feuer spucken, sondern nur eine brennbare Flüssigkeit an einer Fackel entzünden. Aber an jenem Abend kam der Feuerschweif zu ihm zurück und verbrannte sein ganzes Gesicht. Einige Zuschauer wollten eine dämonische Fratze gesehen haben, die das Feuer zurückpustete. Das Gesicht des Mannes war dann so entstellt, dass er nie wieder auftreten konnte.«

      »Wenn die Geschichte überhaupt stimmt, dann hat es vielleicht nur Durchzug gegeben«, sagte ich zweifelnd, »an die pustende Fratze glaube ich jedenfalls nicht.«

      »Doch, sie muss stimmen, er soll heute noch manchmal sehnsüchtig durch einen Vorhangspalt in die Manege schauen, obwohl das Unglück schon viele Jahre her ist.«

      Mein skeptischer Gesichtsausdruck veranlasste Zuko dann noch einen draufzusetzen. »Ich habe ihn auch schon gesehen, wenn du es genau wissen willst. Seine Haut sieht aus wie zerknittertes Pergament, das irgendwie stellenweise unnatürlich glänzt. Er hat eine winzige Nase und keine Augenbrauen und Ohren mehr.«

      »Da der Mann nicht gestorben, sondern nur sehr schwer verletzt worden ist, kann man ja wohl kaum von einem Geist sprechen«, ließ ich mich nicht beirren.

      »Doch, er ist nämlich ein paar Jahre später verstorben.«

      »Und von wem hast du die Geschichte? Du selbst warst ja wohl zu dieser Zeit noch nicht auf der Welt.«

      »Ich habe da so meine Quellen. Manchen Erwachsenen ist es egal, dass ich noch ein Kind bin. Sie behandeln mich jedenfalls nicht so.«

      »Das war bestimmt einer der Arbeiter, die beim Auf- und Abbau des Zeltes geholfen haben. Der wollte dir nur Angst machen oder sich wichtig tun. Da sind ganz üble Burschen dabei. Von denen solltest du dich fernhalten.«

      »Wenn du mir nicht glaubst, kann ich diese Geschichten auch für mich behalten.«

      »Jetzt sei nicht gleich beleidigt. Nein, ich finde das sehr interessant. Was hast du sonst noch zu bieten?«

      »Vor Shi, unserem Schlangenmädchen, hat es früher ein anderes gegeben, das spurlos verschwunden ist. Später hat man es dann tot aufgefunden. Die junge Frau soll von einem Mann entführt worden sein, der regelrecht besessen von ihr gewesen ist. Er hat sie wochenlang gefangen gehalten und ihr die Fußsehnen durchgeschnitten, damit sie ihm nicht weglaufen konnte.«

      »Und die siehst du auch manchmal?«

      »Nein, ich nicht, aber andere. Sie soll sich kriechend wie eine Schlange fortbewegen, ihre Haut schuppig sein und ihre Augen auch mehr denen einer Schlange gleichen. Wenn ich ehrlich bin, möchte ich ihr nicht so gerne begegnen. Ich mag diese Viecher nicht.«

      Für mich hörte sich das mehr nach einer Legende an. Ein Mädchen kann seinen Körper so geschmeidig verbiegen, dass man sie mit einer Schlange vergleicht. Und als sie stirbt, aus welchen Gründen auch immer, gleicht ihr Geist ebenfalls einer Schlange, könnte man annehmen. Aber ich behielt meine Bedenken für mich, damit Zuko nicht gleich wieder einschnappte.

      »Und dann gibt es da noch den Schwertschlucker, der über ein unsichtbares Hindernis stolperte und sich dabei den Oberkörper aufspießte«, sprach Zuko weiter, um mich endgültig zu überzeugen. »Wenn der sich sehen lässt, trägt er immer noch das Schwert in seinem Rachen, und die Spitze ragt aus seiner Brust. Allerdings kommt der nur zur Zeit des Zhongyuan, dafür aber jedes Jahr.«

      Ich unterließ es, Zuko zu fragen, ob er den auch schon gesehen hatte, denn mir wurde schmerzlich bewusst, dass meine māma sich mir das erste Mal zum Totenfest gezeigt hatte. Zuko deutete mein nachdenkliches Schweigen als Anzeichen, mich endlich überzeugt zu haben. Ich ließ ihn in dem Glauben. Ich fragte mich nur, warum nur ich, ein paar Zuschauer und die Jongleure Li Ying und Li Bo meine Eltern gesehen hatten, Zuko aber nicht. Entweder er prahlte nur damit, die Geister Verstorbener sehen zu können, oder ließ absichtlich meine Eltern aus, wenn er von denen sprach, die dem „Geisterzirkus“ zu seinem Namen verholfen hatten. Früher oder später würde er mir darüber Auskunft geben müssen.

      Zukos Erzählungen bereiteten mir dann aber doch unruhige Nächte und schwere Träume. Einmal meinte ich, von einem seltsamen Geräusch geweckt worden zu sein, eine Art Zischen. Als ich schlaftrunken die Augen öffnete, bewegte sich ein Wesen auf mich zu, das halb Frau und halb Schlange zu sein schien. Geschmeidig glitt sie über den Boden, und ihre lidlosen Augen, die die derart trüb waren, dass sie wie tot wirkten, fixierten mich furchteinflößend. Ich war vor Schreck wie gelähmt und konnte keinen Ton aus meiner trockenen Kehle hervorbringen, also auch nicht nach Mimi rufen. Erst als das Reptil mir so nahe war, dass ich seine gespaltene Zunge auf meiner Haut spüren konnte, löste sich meine Schockstarre in einem gellenden Schrei, der mich und Mimi erwachen und dankbar feststellen ließ, dass ich nur geträumt hatte.

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