Norman Dark

China Blues


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als hätte er es mit eigenen Augen gesehen, »die Gänge zur Halle sind gesäumt mit Vögeln und anderen Tieren aus Ton. An der Decke glitzern Tausende Edelsteine und Perlen wie Sterne, und auf dem Boden findet man alle Seen und Flüsse Chinas aus Quecksilber nachgebildet.«

      Das hörte sich für mich als Kind wie ein schönes Märchen an, aber neueste Forschungen mit Unterstützung durch Sonar- und Computertechnik haben ergeben, dass es tatsächlich eine hohe Quecksilberkonzentration im Berg gibt.

      »Mein Freund Shen Hua und ich entdeckten damals die Anlage rein zufällig«, erzählte lao ye weiter, »da warst du noch gar nicht auf der Welt. Das war im März 1974. Weil wir schon länger unter der Trockenheit litten, versuchte Shen Hua, einen Brunnen zu bohren. Dabei stieß er auf eine verbrannte, harte Erdschicht. Nach etwa vier Metern kamen Tonstücke, ein Boden aus Ziegelsteinen und schließlich eine Armbrust und Pfeilspitzen aus Bronze zum Vorschein. Als man in der Kreisstadt Lintong davon erfuhr, kam der Beamte für den Schutz alter Kulturschätze mit Sachverständigen angereist. Die Untersuchungen haben dann ergeben, dass es sich um wertvolle Fundstücke aus der Qin-Zeit handelte. Es gab auch lebensgroße Figuren, die zum Teil zerbrochen waren. Später wurden sie im Kulturhaus von Lintong restauriert.«

      »Aber dann bist du ja berühmt, lao ye«, hatte ich kindlich naiv ausgerufen.

      Mein Großvater hatte abgewinkt. »Shen Hua, seine Arbeiter und auch ich mussten uns verpflichten, nichts über den Fund verlauten zu lassen, weil man die Informationen unter Verschluss hielt. Aber es muss dennoch etwas durchgesickert sein, denn als ein Journalist von den Funden berichtete und sie damit in ganz China bekannt machte, begann ein archäologisches Team die Anlage genauer zu untersuchen. Dabei wurde auch die Tonarmee des Kaisers entdeckt. Im Juli 75 hat man dann den Fund von offizieller Seite bestätigt. Aber etwas anderes wird bis heute bestritten. Dabei habe ich es mit eigenen Augen gesehen. Aber davon erzähle ich dir ein anderes Mal.«

      Natürlich hatte ich sofort wissen wollen, worum es sich handelte, aber lao ye war standhaft geblieben, um auch noch bei unserem nächsten Besuch eine spannende Geschichte für mich parat zu haben. Ich musste fast ein Jahr warten, bis er endlich damit rausrückte.

      »Als junger Bursche bin ich viel herumgezogen und habe an verschiedenen Orten gearbeitet«, begann er seine Erzählung, »dabei habe ich viele interessante Dinge gesehen, aber die ungewöhnlichste Entdeckung habe ich nicht weit von hier entfernt gemacht. Dort sah ich mit eigenen Augen eine Pyramide, die ungefähr dreihundert Meter hoch war und die weiße Pyramide genannt wird.«

      »Au fein, wenn es hier in der Nähe ist, können wir doch zusammen hingehen«, hatte ich gejubelt.

      »Nein, mein Schatz, das ist für deine kleinen Beine zu weit. Außerdem ist das Gelände nicht so einfach zu erreichen, weil der Weg dorthin ziemlich beschwerlich ist. Du musst dich also mit dem begnügen, was ich dir berichten kann.«

      »Dann ist sie ja doppelt so hoch wie die große Pyramide in Ägypten«, überlegte ich.

      »Woher weißt du, dass es in Ägypten Pyramiden gibt und wie hoch sie sind?«, fragte lao ye verwundert.

      »Das hat mir Maged, unser Feuerspeier, erzählt«, antwortete ich stolz, »der kommt aus Kairo und weiß eine Menge von seinem Land zu berichten.«

      »Ah so, auf diese Weise lernst du immer wieder etwas dazu.«

      »Sag mal, lao ye, war die Pyramide, die du gesehen hast, wirklich weiß?«, wollte ich ganz genau wissen.

      »Tja, das ist so eine Sache. Eigentlich hatte dieses seltsame Bauwerk vier Farben, auf jeder Seite eine andere. Die östliche war eher blau, weil sie mit einem bläulich grünen Nadelwald bewachsen war. Die nördliche wirkte dunkelgrau bis schwarz, weil sie von der Sonnenseite abgewandt im Schatten lag. An der Südseite haben Bauern im Laufe der Jahrhunderte Terrassen eingearbeitet, deshalb sah man den gelblich-roten Lehmboden und diese Seite wirkte rot. Aber an der Westseite fand man noch immer hellgraue Steinquader, die fast weiß leuchteten. Daher kommt bestimmt der Name „Weiße Pyramide“.«

      Ich war tief beeindruckt. Eine gelbe Pyramide wie die in Ägypten konnte ja jeder haben, aber eine, die vierfarbig war, gab es nur in China. Bàba hielt sich noch zurück, solange wir bei lao ye und lao lao zu Besuch waren, um das neu erworbene gute Verhältnis zu seinem Schwiegervater nicht zu gefährden, aber auf der Rückfahrt konnte er nicht länger an sich halten.

      »Weißt du, mein Schatz, dein lao ye weiß wirklich interessante Geschichten zu erzählen, aber so hübsch sie auch sind, müssen sie nicht immer wahr sein.«

      »Warum sagst du das? Willst du behaupten, mein Vater lügt?«, protestierte meine Mutter.

      »Nein, ich will ihn nicht als Lügner bezeichnen. Er erfindet nur manchmal etwas, indem er Gerüchte oder Sagen etwas ausschmückt. Die Weiße Pyramide ist ein Mythos, der schon seit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg kursiert. Archäologische Beweise gibt es nicht. Hier in der Gegend wird natürlich gern darüber gesprochen, weil die angebliche Pyramide ja sozusagen vor der Haustür liegt. Der mǎxìtuánlǎobǎn hat mich vor unserer Abfahrt schon aufgezogen, indem er meinte, ich solle doch ein Foto von der Pyramide machen, damit es endlich mal einen Beweis gibt.«

      Hong Long, was roter Drache bedeutete, konnte in seiner Eigenschaft als Zirkusdirektor eben auch nicht alles wissen, dachte ich grimmig, denn ich glaubte meinem Großvater. Warum sollte man einem glauben, der bestimmt einen falschen Namen, allenfalls einen Künstlernamen trug, denn roter Drache war beinahe zu schön, um wahr zu sein. Und diesen Titel, mit dem er sich ansprechen ließ, fand ich ohnehin zu schwierig und beinahe lächerlich, schließlich bedeutete mǎxìtuánlǎobǎn wortwörtlich übersetzt nur der Zirkusinhaber, wobei mǎ für Zirkus stand, tuán für Prinz, allenfalls für Herr auf Malayisch oder Indonesisch, und lǎobǎn für den Inhaber eines Geschäftes.

      »Angefangen hat es damit«, sprach mein Vater weiter, »dass 1945 ein amerikanischer Pilot bei einem Aufklärungsflug die Pyramide gesichtet haben will. Zwei Jahre später erschien sogar ein Artikel in der New York Times, dessen Verfasser sich zwanzig Jahre später korrigierte und die Maße der Pyramide als halb so groß angab. Auf den wenigen Fotos, die es gab, meinte man den Maoling-Grabhügel zu erkennen. Ich weiß also nicht, was dein Vater gesehen hat, aber die sogenannte „Weiße Pyramide“ war es bestimmt nicht.«

      »Doch«, hatte ich trotzig beharrt, »lao ye lügt nicht.« Für den Rest des Tages war dann mit mir nichts mehr anzufangen gewesen.

      Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass etwa fünfzehn Jahre später ein Russischer Forscher in dem „Berg“ Liangshan die sagenumwobene Pyramide erkannt haben will. Nachdenklich machte mich, dass der bewusste „Berg“, an dessen Fuß sich das Mausoleum des Kaisers Tang Gaozong und seiner Gattin Kaiserin Wu befindet, ganz in der Nähe von Qiang Xian liegt, dem Heimatdorf meiner Großeltern. Und der Beschreibung eines Forschers über eine nach den Himmelsrichtungen ausgerichtete Pyramide nach, der schon 1912 darüber berichtete, weisen die Seiten der Anlage vier unterschiedliche Farben auf. Lao ye muss also entweder geschickt kombiniert oder doch mehr gesehen haben als mein Vater glauben wollte.

      Hong Hui, die Frau des Zirkusdirektors, übte sich weniger im Geschichtenerzählen als darin, uns Zirkuskindern etwas beizubringen, denn durch das Herumreisen habe ich bis heute keine Schule besucht. Tante Hui, oder chinesisch korrekt ausgedrückt āyí Hong Hui, war nämlich bevor sie Hong Long heiratete Lehrerin gewesen und konnte uns deshalb in Chinesisch, Geschichte und etwas Mathematik, Englisch und Religion unterrichten. Sie hatte nie bereut, die Frau eines Zirkusdirektors geworden zu sein, wie sie uns einmal erzählte, wenn es auch für eine Karriere in der Manege nicht gereicht hatte. Beim Jonglieren war sie zwar sehr geschickt und eine Weile als Assistentin ihres Mannes aufgetreten, aber sie brauchte nicht den Applaus des Publikums und blieb lieber im Hintergrund, um von dort aus die Fäden zu ziehen. Und da sie selbst keine Kinder hatte, machte es ihr umso mehr Spaß, uns liebevoll den Schulstoff und etwas Algemeinbildung zu vermitteln.

      Von ihr lernten wir,