Norman Dark

China Blues


Скачать книгу

die Volksrepublik China, kurz VR, benannt wurde. Dazu gehörte noch die Republik China auf der Insel Taiwan. Mit über einer Milliarde Einwohnern sei China das bevölkerungsreichste Land der Erde, der flächengrößte Staat in Ostasien und der viertgrößte der Erde, meinte sie.

      Weiterhin erfuhren wir, dass es zwar drei verschiedene Religionen in China gibt, man aber trotzdem nur von der chinesischen Religion spricht, denn Daoismus bzw. Taoismus, Buddhismus und Konfuzianismus sind zur Lehre der „drei Wege“ geworden und ergänzen einander. Ihr gemeinsames Ziel ist das friedliche Zusammenleben der Menschen. Zu Zeiten der chinesischen Kulturrevolution von 1966 bis 1976 war aber die Ausübung einer Religion verboten und ihre Anhänger wurden sogar verfolgt. Man zerstörte ihre Gebetsstätten und Tempel und verhaftete die Priester. Und es sollte noch bis zum Beginn des neuen Jahrtausends dauern, bis es wieder eine, wenn auch eingeschränkte Religionsfreiheit in China gab.

      Tante Hong Hui ließ uns Verse aus dem Tao te king auswendig lernen wie:

       Ich habe drei Schätze, die ich schätze und hüte: Der eine ist die Liebe, der zweite ist die Genügsamkeit, der dritte ist die Demut.

      oder:

       Das Allerweichste auf Erden

       überholt das Allerhärteste auf Erden.

       Das Nichtseiende dringt auch noch ein in das,

       was keinen Zwischenraum hat.

       Daran erkennt man den Wert des Nichthandelns.

       Die Belehrung ohne Worte, den Wert des Nichthandelns

       erreichen nur wenige auf Erden.

      Dabei vergaß sie aber nicht zu erwähnen, dass Wu-Wei, das „Nichttun“, zur Erlangung des Dao bzw. Tao nicht mit Faulheit oder Bequemlichkeit zu verwechseln sei. Es gehe vielmehr darum, bewusst die Dinge geschehen zu lassen.

      Auch wusste sie etwas über Geister zu berichten, was uns Kinder natürlich besonders interessierte. So meinte sie, dass die meisten Menschen in China trotz der großen Umwälzungen innerhalb der chinesischen Gesellschaft noch immer am jahrhundertealten Glauben an Götter wie Shoulaon, den Gott der Langlebigkeit oder Kuan Yin, die buddhistische Schutzgöttin der Kinder, und an Geister festhielte. So gab es gute Geister – shen, die Geister der Ahnen, die Verehrung verdienten, und böse Geister – kuei bzw. guei, die Unglück, Finsternis und Tod brachten.

      Fortan überlegte ich, ob der Freund meines Großvaters Shen Hua vielleicht nur ein Geist gewesen war und lao ye nur beim Bau des Brunnens geholfen hatte, denn schließlich war sein Familienname der eines Geistes, aber später erfuhr ich, dass Shen ein gebräuchlicher Nachname in China ist.

      Neben den kuei existiere noch eine sehr vielfältige Dämonenwelt, zu der die kopflosen Yü kuang, die langhaarigen Echogeister Wáng ling mit Kindergestalt, die besonders gerne Reisende durch Nachahmen der Stimmen erschreckten, die acht Koboldbrüder-/Irrlichter Yiu guang, die Berggeister Shan-jing, die leichenfressenden Wáng xiang und viele andere gehörten.

      Bei den beiden anderen Kindern, die von āyí Hong Hui unterrichtet wurden, handelte es sich um die Zwillinge Mimi und Zuko, deren Eltern Wáng Jun und seine Frau Wáng Bao, die beide Kollegen und Auftrittspartner meines Vaters waren. Mimi, meine einzige Freundin in einer Welt voller Erwachsener übte sich ebenso wie ihr Bruder Zuko in der Seilakrobatik, und das schon von früher Kindheit an. Beide waren nur ein Jahr älter als ich. Dass wir einmal Geschwister werden würden, davon ahnte ich freilich nichts. Ein Glücksumstand, den ich mit sehr viel Leid und dem Verlust meiner leiblichen Eltern bezahlen musste.

      An die Zeit nach dem Tod meines Vaters habe ich kaum noch Erinnerung, nur, dass er oft nachts an meinem Bett saß und mein Haar streichelte, während meine arme māma blass und übernächtigt umhergeisterte, sodass man sie viel eher für das Gespenst halten konnte.

      Auch die Tage nachdem māma gestorben war erinnere ich kaum noch, als hätte ich sie gar nicht gelebt. Ich weiß nur, dass ich hohes Fieber bekam und immer wieder in tiefe Bewusstlosigkeit versank. Das sei der Schock hatte der Arzt gemeint. Man solle mir viel Liebe und Fürsorge angedeihen lassen, dann würde ich mich nach und nach erholen, erzählte mir Mimi später. Damit mir meine vertraute Umgebung erhalten blieb, durfte ich weiterhin den Wohnwagen meiner Eltern bewohnen. Es war ohnehin niemand da, der darauf Anspruch hatte, außer mir. Lao ye und lao lao hätten ihn ganz gewiss nicht in den Garten ihres Bauernhauses gestellt. Wáng Bao hatte dann die großartige Idee, uns Kinder gemeinsam den Wagen nutzen zu lassen, und Wáng Jun war sofort einverstanden, weil somit alle viel mehr Platz haben würden. In jenen Tagen war mir alles egal, auch verfügte ich nicht über die Kraft, zu protestieren, aber ich lernte es später zu schätzen, mit den Zwillingen ein eigenes Reich zu haben.

      Als ich mich zumindest körperlich etwas erholt hatte, wartete Mimi mit einer großen Überraschung auf.

      »Weißt du, es geht dir nicht allein so. Wir sagen zwar zu Wáng Bao „māma“, aber sie ist nicht unsere leibliche Mutter.«

      »Was, wer dann?«, rief ich erstaunt aus, »und warum seid ihr nicht bei ihr?«

      »Weil unsere Mutter sehr früh gestorben ist, da warst du noch gar nicht auf der Welt. Wir haben leider keine Erinnerung an sie, weil wir zu klein waren, aber sie ist sehr schön gewesen, wie man auf den Fotos sieht.«

      »Woran ist sie gestorben?«

      »An dem Erreger, der auch für die Hongkong-Grippe verantwortlich sein soll.«

      »Aber den hat man Ende der sechziger Jahre entdeckt, wie Tante Hong Hui uns erzählt hat, seitdem lassen sich die Leute dagegen impfen.«

      »Unsere māma hat es nicht getan …«

      Ich war tief betroffen und sah in Mimi plötzlich so etwas wie eine Leidensgenossin, obwohl sie wenigstens noch ihren Vater hatte.

      »Ist es schlimm für euch, zu wissen, dass Wáng Bao euch nicht geboren hat?«, fragte ich vorsichtig.

      »Nein, überhaupt nicht. Für uns war sie immer unsere Mutter, und das wird sie auch für dich einmal sein.«

      Das war etwas, was ich mir in keinem Fall vorstellen konnte. Ja, ich mochte Wáng Bao, aber meine māma hatte ich über alles geliebt. Keine Frau würde jemals ihren Platz einnehmen können, war ich damals überzeugt, aber mit den Jahren trat etwas ein, womit ich niemals gerechnet hatte, dass ich das Gefühl bekam, zwei Mütter zu haben. Und das war zweifellos Wáng Baos Verdienst. Dass auch sie kein glücklicher Mensch war und man ihr deshalb besonders hoch anrechnen musste, dass sie liebevoll die Nachkommen anderer Frauen aufzog, konnte ich als Kind noch nicht erkennen, dazu musste ich erst älter werden.

      Als es mir etwas besser ging und ich nicht mehr so viel weinte, durfte ich wieder am Unterricht von āyí Hong Hui teilnehmen. Sie fühlte sich wohl verpflichtet, uns meinetwegen etwas über den Ahnenkult der Chinesen zu erzählen. So erfuhren wir, dass man in China annimmt, dass der Mensch zwei Seelen besitze. Eine, die vor der Geburt geschaffen wird, und eine zweite, die höhere, geistige Seele, die nach der Geburt entsteht. Auf ihrer Reise in den Himmel werde sie von bösen Mächten bedroht, und sei deshalb auf die Opfer und Gebete der Hinterbliebenen angewiesen. Wird das unterlassen, könne diese Seele zu einem bösen Geist werden. Durch die Opfer könne man von den Seelen der Verstorbenen Schutz und Hilfe erhoffen.

      Das war die kindgerechte Version, denn Hong Hui verschwieg uns, dass die erste Seele im Augenblick der Empfängnis entstand, nach dem Tod bei dem Leichnam im Grab lebte und sich von den dargebrachten Opfern ernährte. Zerfiel der Leichnam, schwand auch die Kraft dieser Seele, um schließlich in der Unterwelt, bei den „Gelben Quellen“, ein Schattendasein zu führen. Werden keine Opfer dargebracht, kehre sie als böser Geist zurück und stifte Unheil – so die offizielle Auslegung des chinesischen Glaubens. Eine Version, die uns Kinder doch zu sehr geängstigt hätte. Auch wäre mit der Frage zu rechnen gewesen, wer die Opfer zum Grab meiner Eltern bringe, da wir ja die meiste Zeit auf Reisen waren. Dabei gab es dafür