Norman Dark

China Blues


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ein Jahr lang Ruhe, bis der nächste Zhongyuan kommt.«

      »Ich will nur hoffen, dass die Geister der Verstorbenen das auch so sehen.«

      Ich hatte genug gehört und lief schnell vom Wagen weg in eine andere Richtung. Was meinte Li Bo am Hals meiner Mutter gesehen zu haben, eine Art Ausschlag, die von ihrer Krankheit verursacht wurde? Noch mehr in Unruhe versetzte mich, was Li Ying über meinen Vater gesagt hatte. Das konnte doch gar nicht sein, dass sein liebes Gesicht durch Hass entstellt gewesen war. Und vor allem gegen wen? Er hatte sich doch immer mit allen gut verstanden und war äußerst beliebt gewesen. Die Li’s mussten sich beide getäuscht haben, wer weiß, wen oder was sie gesehen hatten, aber meine lieben Eltern waren es bestimmt nicht gewesen, versuchte ich mich zu beruhigen. Nur gelang es mir nur schwer, sodass sogar meine Träume davon beeinflusst wurden.

      So hatte ich in der folgenden Nacht einen schrecklichen Albtraum. Ich sah meine liebe māma hoch oben am Trapez den Salto üben. Nur war die Sicherheitsleine nicht wie sonst an ihrer Taille befestigt, sondern um ihren Hals gelegt. Als māma das ihr entgegen schwingende Trapez verfehlte und abstürzte, zog sich die Leine derart fest um ihren Hals, dass sie keine Luft mehr bekam und wild mit Armen und Beinen strampelte. Ihre Augen schienen förmlich aus den Höhlen zu treten und ihre dick angeschwollene Zunge hing ihr seitlich aus dem Mund. Als man ihr endlich zu Hilfe kam und die Leine kappte, war es schon zu spät. Ihr Körper lag schlaff und leblos wie der einer Puppe im Sand der Manege. Nur hatten Puppen für gewöhnlich nicht so entstellte Gesichter, deshalb wollte ich auch nicht glauben, dass diese meine Mutter war, und schaute am ganzen Leib zitternd suchend zur Zirkuskuppel hinauf. Aber meine māma konnte ich dort nicht finden.

      Ich wagte nicht, irgendjemand von diesem schrecklichen Traum zu erzählen. Schon deshalb nicht, um nicht erneut jede schaurige Einzelheit vor Augen zu haben. Aber fortan beschlich mich eine leise Ahnung, woran meine māma wirklich gestorben war. Aber keiner der Erwachsenen würde mir in meinem Alter diesen Verdacht bestätigen, begriff ich instinktiv. So unterließ ich es vorerst, weiter nachzufragen.

      Trotz aller Bewunderung für die Trapezkunst meiner Pflegeeltern, für die zauberhaften Akrobatinnen, die auf Einrädern ihre Kunststücke vorführten, die unglaublich gelenkigen Schlangenmädchen, die Luftakrobaten, die meterhohe Türme aus Stühlen bauten, um darauf herumzuklettern, und die wagemutigen Bambusakrobaten, die es fertig brachten, auf zwei Stangen in luftiger Höhe einen Spagat zu machen, gehörten in jenen Kindertagen meine Liebe und Faszination besonders den Tieren, die mit uns reisten. Ob ihnen dabei auch eine artgerechte Haltung widerfuhr, dafür hatte ich als kleines Mädchen noch keinen Sinn, umso mehr begann ich in der Zeit der Pubertät, während der man ohnehin alles hinterfragte, daran zu zweifeln.

      Allen voran liebte ich die Pferde. Dass mit dem Pferd die Geschichte des Zirkus begonnen habe und Pferdedarbietungen ein unverzichtbarer Bestandteil des klassischen Zirkus seien, belehrte man mich. Dabei interessierten mich weniger die Kunststücke wie Achterlaufen, Gegenlaufen, Pirouette oder die sogenannte Ungarische Post, bei der ein Reiter, auf einem Pferd stehend, die Zügel von mehreren weiteren hält, die man den Tieren innerhalb der sogenannten Freiheitsdressur beigebracht hatte, son-dern viel lieber sah ich sie bar jeglichen Zwanges bei der fachmännischen Pflege des Fells und der Hufe zu oder beim Ausführen auf dem Zirkusplatz, denn die tägliche Bewegung dieser stolzen, schönen Tiere war außerhalb der Vorstellungen und Proben unverzichtbar.

      Deshalb konnte ich mir vorübergehend auch vorstellen, der schönen Tu Aya nachzueifern, die allabendlich das Publikum begeisterte, indem sie auf ein galoppierendes Pferd sprang, dessen Sattel zwar mit kostbarer Seide bedeckt war, aber keine Steigbügel trug. Auf dem Pferderücken machte Tu Aya dann waghalsige Sprünge oder ließ sich seitwärts mit dem Kopf nach unten fallen. Der Höhepunkt der Nummer war jedes Mal, wenn Tu Ha, ihr Partner und Ehemann, zusammen mit einem Helfer eine breite Stoffbahn ausbreitete, unter der das Pferd durchgaloppierte, während Tu Aya über den Stoff sprang und stehend wieder auf dem Pferderücken landete.

      Faszinierend fand ich auch Juan, den asiatischen Kragenbären, der eigentlich eine Bärin war, denn Juan ist ein Frauenname und bedeutet „Die Schöne“ oder „die Anmutige“. Sein „bàba“, P’an Nhat, der sie von klein auf besaß und dressiert hatte, erklärte mir, dass weibliche Kragenbären deutlich weniger Gewicht aufweisen und etwas leichter zu dressieren seien, und dass man diese Bärenart auch Mondbär nennt, wegen der weißen, sichelförmigen Fellfärbung auf der Brust, während er den Namen Kragenbär den längeren buschigen Haaren im Halsbereich verdankt. Dass man die kuscheligen Teddys nicht unterschätzen sollte, zeigten nicht nur die langen ausgeprägten Krallen, sondern die Tatsache, dass auch Juan in der Manege nur an der Longe geführt wurde und sie zusätzlich einen Maulkorb trug. Da bei Bären ihre Mimik anders als bei Raubkatzen einen bevorstehenden Angriff nicht ankündigt, gelten Bären bei der Dressur als unberechenbar, sagte man mir. Ich wollte einfach nicht glauben, dass von dem possierlichen Tier, das so niedlich Fahrrad fuhr, auf Rollschuhen oder Stelzen lief und zum Takt der Musik tanzte, eine Gefahr ausging, bis mir Zuko etwas erzählte, das er bei den Erwachsenen aufgeschnappt hatte.

      Vor Jahren hatte sich Folgendes ereignet: P’an Nhat hatte zu der Zeit in einem Vergnügungsparks in der Nähe von Shanghai seine Nummer mit der radfahrenden Juan vorgeführt. Gleichzeitig fuhr in der Arena ein dressierter Affe ebenfalls Rad. Als er plötzlich aus der Spur geriet, war er von Juan angegriffen und zerfleischt worden.

      Folglich machte ich erst einmal eine Weile einen großen Bogen um die Bärin, weil ich die Geschichte so schaurig fand und nicht wusste, was ich davon halten sollte.

      Die beiden Elefanten, Sina und Ran, waren auch Weibchen, deshalb konnte es keinen Nachwuchs bei ihnen geben, was ich außerordentlich bedauerte, denn die ausgewachsenen Tiere ängstigten mich allein von der Größe her schon sehr. Dabei konnte ich allabendlich beobachten, wie grazil sie sich bewegten, beinahe leichtfüßig. Außer Rüssel- und Fußheben, Hinlegen, Aufsitzen und Drehen beherrschten sie auch Kunststücke wie dem einarmigen Handstand auf einem der Vorderläufe, dem Gang über zwei dicke Drahtseile und dem Balancieren auf großen Bällen.

      Ganz besonders beeindruckend fand ich, wenn die elfenhafte Sulin sich auf die Stoßzähne der Tiere legte. Dabei erkannte keiner der Zuschauer, dass es sich dabei um einen Trick handelte, denn bei den asiatischen Elefanten sind die Stoßzähne bei Weibchen nur rudimentär ausgebildet oder gar nicht vorhanden. Mithilfe von aufgesetzten „Prothesen“ wurde also die Illusion von gewaltigem Elfenbein erzeugt, und niemand merkte es.

      Um keinen Trick hingegen handelte es sich, wenn Sulin sich gar unter einen der angehobenen Elefantenfüße legte. Sowohl Sina als auch Ran gingen dabei äußerst vorsichtig zu Werke, sodass für Sulin nie Gefahr bestand. Trotzdem hätte ich um keinen Preis der Welt mit ihr tauschen wollen.

      Da Raubtierdressuren zu den Höhepunkten eines klassischen Zirkusprogramms gehören, gab es natürlich auch Löwen in unserem Zirkus. Raubkatzen gelten in ihren Ansprüchen als recht genügsam und pflanzen sich auch unter nicht so günstigen Bedingungen in der Obhut von Menschen fort. Deshalb kam ich in den Genuss, ihren Nachwuchs aus nächster Nähe bewundern zu können. Ich war damals etwa zehn Jahre alt und hätte mich am liebsten den ganzen Tag in der Nähe der Käfige aufgehalten. Sogar mein Training am Trapez vergaß ich vor Aufregung und musste mich dafür schelten lassen.

      Schon früh am Morgen nahmen die Löwenbabys ihr Frühstück am Bauch der Mutter ein. Dieses Schauspiel wollte sich auch Mimi nicht entgehen lassen. Zuko stieß erst am Vormittag dazu, denn dann wurden die Kleinen zum Löwenspielplatz geführt, dessen Boden mit desinfiziertem Stroh belegt war. Dort konnten sie raufen und toben, wovon auch Zuko nicht genug bekam, wohl deshalb, weil er eben ein richtiger Junge war. Verletzungsgefahr bestand dabei nicht, denn die ersten Zähnchen kamen frühestens in einer Woche. Der stolze Löwenvater schaute ihnen dabei aus sicherer Entfernung zu. Gegen Mittag bekam die Löwen-Mutter dann Leber, Huhn und frischen Pansen, damit sie über genügend Muttermilch für die hungrigen kleinen Mäuler verfügte. Anschließend putzte die Löwin die Kleinen gründlich am Bauch und schleckte ihnen das Fell sauber.

      So gerne ich es gewollt hätte, durfte ich die Babys nicht anfassen, damit sie wegen des ungewohnten Geruchs nicht von ihrer Mutter verstoßen wurden.

      Vor