André Graf

Zeitenwende


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falsch waren. Einsteins Pech war nur, dass die Resultate seiner Experimente den Aussagen der Quantenmechanik nur auf den ersten Blick widersprachen. Auf den zweiten Blick stan­den sie alle in völliger Übereinstimmung mit den quan­tenmechanischen Vorhersagen. Da half es auch wenig, dass Einstein den Quantenmechanikern seinen berühmten Ausspruch »Gott würfelt nicht!« entgegenschleuderte. Denn Einstein wusste genau, dass Gott nicht als Zeuge in diesem wissenschaftlichen Streit angerufen werden konn­te. Ob Gott ein Spieler war oder nicht, ob er die Welt in die­ser oder einer anderen Art geschaffen hatte, war Stoff für die Theologen, nicht die Physiker. Die Naturwissenschaft­ler hatten nur die Aufgabe, die Naturgesetze so zu be­schrei­ben, wie sie sich den Menschen offenbarten.

      Joanne hatte sich eng an ihren Vater geschmiegt und schlief, während Jonathan Cutter, die Augen halb ge­schlos­sen, seinen Gedanken nachhing. Er dachte nicht über Aspekte der Zeit oder des Raumes nach, sondern über die Ferien, die vor ihnen lagen und die ihnen drei unbeschwerte Wochen in Europa, der Heimat seiner Vor­fahren, bescheren sollten. Dass in diesem Moment das Schick­sal eine andere Wendung nahm, ahnte Cutter nicht; zu friedlich und alltäglich hatte der Morgen in diesem Luxushotel begonnen.

      *

      Auch einem aufmerksamen Beobachter wären die beiden Ho­telgäste kaum aufgefallen. Der knapp fünfzigjährige Mann mit dichtem, leicht ergrautem, kurz geschnittenem schwar­zem Haar und einem ebenso dichten, dunkel­schwar­zen Schnurrbart, der sich von dem eher blassen Gesicht abhob, saß entspannt auf dem schwarzen Leder­sofa. Er trug sportliche, farblich perfekt aufeinander abge­stimmte Kleidung, die es nur in den exklusivsten Boutiquen zu kaufen gab. Er war von durchschnittlicher Statur, doch machte sein Körper einen durchtrainierten Eindruck. Das einzig wirklich Auffällige an ihm waren seine großen, schau­felförmigen Hände, die nicht zu seinem ansonsten schlanken Körper passten.

      Der zierliche Teenager neben ihm mochte siebzehn Jah­re alt sein und war – die Ähnlichkeit zwischen den bei­den ließ keinen Zweifel zu – die Tochter des Mannes. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit leicht hervorstehenden Ba­cken­knochen, das nur dezent geschminkt war. Ihre langen, dunkelblonden Haare waren zu einem Knoten zu­sam­men­gesteckt. Sie trug ebenfalls teure, wenngleich unauffällige Sportkleidung, die farblich auf die ihres Vaters abge­stimmt war. Ihr Gesicht strahlte Ruhe und Geborgenheit aus. Sie schien sich in den Armen ihres Vaters wohl und sicher zu fühlen.

      Neben dem Sofa stapelten sich einige Koffer, die dar­auf schließen ließen, dass die beiden Gäste auf einen Wa­gen warteten, der sie zu ihrer nächsten Destination bringen sollte.

      Es gab für den imaginären Beobachter keinen Hinweis darauf, dass sich das Schicksal dieser beiden Personen vor einem gewaltigen Umbruch befand, dass sie bald in ei­nen Sog geraten sollten, aus dem ein Entrinnen unmöglich war.

      Hätte es jemanden gegeben, der in der Lage gewesen wäre, diesen Sog wahrzunehmen, so hätte er den Zustand der beiden mit jenem eines Schwimmers verglichen, der sich träge von der Strömung eines Flusses dahintreiben lässt. Er würde bemerken, wie diese Strömung allmählich stärker wurde, den Schwimmer erfasste und ihn nicht mehr losließ. Der ahnungslose Schwimmer – so würde der Be­ob­achter feststellen – wurde unaufhaltsam auf einen Was­serfall zugetrieben, der ihn ins Verderben reißen würde. Doch noch immer realisierte der Schwimmer nichts von der Gefahr, die langsam und völlig lautlos auf ihn zukam. Der Be­obachter wusste längst, dass es für den Schwimmer kein Entrinnen mehr gab, bevor jener auch nur bemerkt hatte, dass er sich auf einen Wasserfall zubewegte.

      Im Gegensatz zu der sichtbaren Dynamik eines Flus­ses war an diesem ruhigen Morgen nichts von einer Strö­mung zu bemerken, die den beiden Hotelgästen zum Ver­hängnis werden könnte. Trotzdem war sie vorhanden – doch keiner der fünf menschlichen Sinne konnte sie wahr­nehmen.

      Jonathan Cutter und seine Tochter wurden un­auf­haltsam und mit zunehmender Geschwindigkeit von einer mäch­tigen Strömung weggetragen, die die Menschen Zeit nannten. Doch die Zeit, so der Glaube der Menschheit, war ein langsamer, gleichmäßiger Fluss, in dem keine plötz­liche Strömung, kein Wasserfall existieren durfte. Ein un­steter Fluss der Zeit widersprach jeder Logik.

      War der Weg der beiden von einer höheren Macht vor­bestimmt, oder waren es nur scheinbare Kleinigkeiten, die die beiden Menschen – vorerst nur leicht, dann immer stär­ker, immer schneller – von der vorbestimmten Lebensbahn abbrachten?

      Gewiss war, dass kein plötzlicher Schicksalsschlag die bei­den treffen sollte, kein einschneidendes, einmaliges Er­eignis, das seine unauslöschlichen Spuren in ihrem Leben hinterlassen würde. Nein, der Lauf ihres Schicksal wurde von drei unscheinbaren Dingen bestimmt: einem defekten Han­dy, einer Ecstasy-Tablette und Joannes Jetlag.

      *

      Jonathan Cutter hatte die Überreste seines Handys am Mor­gen achtlos in den Koffer geworfen. Seine Sekretärin hatte ihn angerufen, als er gerade unter der Dusche gestanden war. Platschnass war er aus der Dusche ge­sprun­gen, dabei auf dem glitschigen Boden beinahe aus­ge­rutscht, hatte gerade noch rechtzeitig das Handy ge­schnappt, bevor die Sekretärin wieder auflegte. Nach ei­nem kurzen Gespräch wollte er das Handy beiseitelegen, wobei es ihm aus den feuchten Händen rutschte, auf dem Marmorboden des Bades aufschlug und in zwei Teile zer­brach.

      So erreichte der Anrufer, der in diesen Minuten meh­re­re Male versuchte, Cutter zu sprechen, nur dessen An­ruf­beantworter. Er hinterließ eine Nachricht, von der er nicht ahnte, dass Cutter sie nie abhören sollte.

      Sandra fühlte sich elend. Sie hatte nur knappe zwei Stun­den geschlafen, bevor sie am frühen Morgen ihren Dienst angetreten hatte. Ihr Freund hatte ihr um Mitternacht eine dieser Tabletten aufgedrängt, von denen sie genau wuss­te, dass sie ihr eine süße Nacht und einen höllischen Tag bescheren würden. Sie hatte sich anfänglich geweigert, schließ­lich aber seinem Drängen nachgegeben, die rot­grüne Tablette mit einem Wodka hinuntergespült und war dann ihrem Freund auf die Tanzfläche gefolgt.

      Längst hatte die Wirkung der Tablette nachgelassen, ob­wohl ihr Arbeitstag hinter der Theke der Rezeption erst vor kurzem begonnen hatte. Jetzt dröhnte ihr Kopf, und als das Telefon läutete, schrillte es in ihren Ohren wie eine al­les durchdringende Alarmanlage, die direkt neben ihr aus­ge­löst worden war.

      »Ja?«, fauchte sie unwirsch in den Hörer. Dieses Ver­halten hätte ihr augenblicklich eine scharfe Rüge ihres Vor­gesetzten eingebracht, doch zum Glück hatte dieser ihren rüden Ton nicht bemerkt, da er gerade mit zwei über­ge­wich­tigen, grell geschminkten Engländerinnen beschäftigt war, die sich ebenso empört wie lauthals über den schlech­ten Zimmerservice beschwerten.

      Sandra verstand die Stimme kaum, die aus dem Hörer drang. Neben dieser einen Stimme, die beinahe ihr Trom­melfell zum Platzen brachte, drängten sich hundert ver­zerr­te Echos durch die Leitung, und Sandra war sicher, dass noch mindestens zwei weitere Stimmen, wiederum be­gleitet von unzähligen Echos, völlig überflüssigerweise die glei­che Frage stellten. Nein, eigentlich stellten sie die Frau­ge nicht, sie brüllten sie durch das Telefonkabel direkt in Sandras Ohr.

      Sie musste sich schon konzentrieren, um die Frage über­haupt zu verstehen. Sie zu beantworten bedurfte einer ungleich größeren Anstrengung. Ja, sie erinnerte sich dar­an, heute morgen einen Kunden namens Custer bedient zu haben. Er hatte, begleitet von seiner großen, hässlichen, spin­deldürren Frau, ein Taxi zum Flughafen genommen.

      »Er ist bereits abgereist«, sagte sie deshalb mit be­leg­ter Stimme.

      »Sind Sie sicher, dass Herr Cutter nicht mehr in der Lob­by wartet?«, insistierten die hundert Stimmen am an­deren Ende der Leitung. Eine der Stimmen dröhnte dabei der­art laut in ihr Ohr, dass sie beinahe den Hörer hätte fallen lassen.

      Es hätte nur einiger klärender Worte bedurft, um das Miss­verständnis zu beseitigen. Sandra hätte den Namen des Gesuchten wiederholen können, dann hätte ihr Ge­sprächs­partner sofort bemerkt, dass sie von einem ge­wis­sen Custer sprach und nicht von Herrn Cutter, nach dem er gefragt hatte. Sie hätte auch erwähnen können, dass der Ge­suchte mit seiner Frau reiste, oder dass er ein Taxi zum Flughafen genommen hatte. Jede dieser Bemerkungen