André Graf

Zeitenwende


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Jonathan gewandt fuhr er fort: »Wenn schon das nicht möglich ist, wie willst du dann irgendwelche präzisen Vorhersagen machen? Unser großer Jonathan Cutter will uns weismachen, dass er die Zukunft vorhersagen kann, ob­wohl er uns nicht einmal sagen kann, wo sich ein be­stimmtes Elementarteilchen zu einem vorgegebenen Zeit­punkt befindet.«

      Alle Augen richteten sich gespannt auf Cutter. Die meis­ten der Anwesenden hatten den Eindruck gewonnen, dass Ben mit seinem Argument die Schlacht für sich ent­schieden hatte.

      Doch Cutter blieb ganz ruhig, auch wenn er genau wuss­te, dass dieses Argument nicht nur die Schlacht, son­dern den ganzen Krieg zwischen ihnen entscheiden konn­te, denn Ben hatte in diesem einen Punkt absolut recht. Jeder ernstzunehmende Quantenphysiker konnte ihm nur zustimmen. Doch Cutter hatte zu diesem Thema seine eigene Meinung, hatte sich seine eigenen Überlegungen gemacht. Es war für einen Stundenten im dritten Jahr sehr gewagt, einen von der Lehrmeinung abweichenden Stand­punkt einzunehmen, vor allem in einer derart zentralen Frage; trotzdem tat er es, nicht nur in diesem Kreis, son­dern – ungeachtet aller Widerstände und offenen An­fein­dungen – auch gegenüber seinen Professoren.

      Cutter zeigte zum geöffneten Fenster hinaus, durch das der blaue Himmel zu sehen war, an dem nur einige we­nige, helle Wolken die Strahlen der milden Frühlings­sonne davon abhielten, bis zur Erdoberfläche vorzu­drin­gen.

      »Keiner von uns fürchtet sich davor, dass in diesem Mo­ment plötzlich ein Blitz vom Himmel fahren und uns hier alle erschlagen könnte. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit für ein solches Ereignis nicht gleich null. Diese Wahr­schein­lichkeit ist jedoch selbst nur die Summe der Wahr­scheinlichkeiten für den Zustand jedes einzelnen Teilchens in der Atmosphäre. Obwohl wir die exakten Zustände all die­ser Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht ken­nen, ist es uns doch möglich, den Gesamtzustand der At­mosphäre zu beschreiben.

      Genauso ist es bei meinem Bei­spiel: Auch wenn ich den Zustand jedes Teilchens nur mit einer bestimmten Wahr­scheinlichkeit beschreiben kann, ist es mir doch mög­lich, den Zustand des ganzen Systems ex­akt zu be­schrei­ben und folglich die Zukunft vorherzusagen. Viele Wissen­schaftler verwechseln, genauso wie unser lie­ber Ben es tut, Wahrscheinlichkeit mit Unsicherheit. Doch sind das nur Narren, von denen wir uns nicht beeinflussen lassen soll­ten. Fazit ist«, fasste er mit einem breiten La­chen zusam­men, »dass es keine Zufälle gibt. Alles ist vor­herbestimmt. Euer Schicksal liegt nicht in euren Händen, es ist bereits vor vierzehn Milliarden Jahren besiegelt wor­den.«

      Dann wurde Cutter ernst. Er ergriff die Hand von Jen­nifer, die rechts von ihm saß, und drückte sie kräftig, ja er klammerte sich an ihr fest, als er mit beinahe religiöser Andacht fortfuhr: »Doch etwas macht diese Berechnungen noch komplizierter, als sie ohnehin schon sind, ja, ich möch­te beinahe Ben zustimmen und es aufgrund der un­glaublichen Größe dieser Herausforderung als unmöglich bezeichnen, dass es dem Menschen je gelingen könnte, die Zukunft vorherzusagen – was jedoch natürlich nicht heißt, dass die Zukunft nicht doch vorbestimmt ist. Uns fehlt noch das Wissen über unzählige Elementarteilchen, von deren Existenz wir wohl ausgehen, die wir jedoch nicht oder noch nicht direkt nachgewiesen haben. Gibt es die dunk­le Materie wirklich? Existieren die Gravitationswellen tatsächlich, die Einstein vorhergesagt hat? Diese und Dut­zen­de anderer Fragen müssen zuerst beantwortet werden, bevor wir auch nur daran denken dürfen, den Ablauf von Raum und Zeit vorherzusagen.« Cutters Stimme klang noch belegter, als er schloss: »Auch wenn wir glauben, die wichtigsten zentralen Prozesse sowohl im ganz Großen des Universums als auch im ganz Kleinen der Ele­men­tar­teilchen zu verstehen, so müssen wir doch zugeben, dass es in der Natur noch unzählige Vorgänge gibt, die uns vor scheinbar unlösbare Rätsel stellen. Wir sind wie Ameisen, die versuchen, globale Prozesse zu verstehen.« Diese Aus­sage hatte etwas Religiöses, Erhabenes an sich. Ehr­furcht lief Cutter wie kalter Schweiß den Rücken hinunter, und nur Jennifers Hand, die er immer fester drückte, hin­der­te ihn daran, zu erschaudern.

      O’Hara zerstörte Cutters Hochgefühl jäh, als er das Wort ergriff. »Ich ziehe gerne die Erkenntnisse fremder Dis­ziplinen in unsere philosophischen Überlegungen mit ein. Darum schätze ich die Anwesenheit Jonathans als Ver­treter der Physik in unserem kleinen Kreis sehr. Doch leider legt unser junger Freund immer wieder ein sehr ein­dimensionales Denken an den Tag. Zahlen, Formeln, Wahr­scheinlichkeiten prägen sein Denken. Dabei geht oft der Blick fürs Ganze verloren. Anstatt auf Jonathans Argu­mente einzugehen, möchte ich lieber einen Aspekt der Hirn­forschung in Erinnerung rufen, der besagt, dass zum Beispiel die für Handbewegungen zuständige Hirnregion ei­nige Zehntelsekunden vor der eigentlichen Bewegung der Hand erhöhte Aktivitäten zeigt. Ist diese Erkenntnis ein Hinweis darauf, dass unsere Handlungen vorbestimmt sind?«

      Cutter ärgerte sich über O’Haras Ignoranz. O’Hara konn­te argumentieren, so lange er wollte; nie würde Cutter eingestehen, dass etwas anderes als die Physik und deren mathematisch definierbaren Gesetze am Ursprung alles Seins standen. Auch eine Hirnaktivität war nicht mehr als eine komplexe Abfolge von physikalischen und chemi­schen Prozessen, die letztendlich von den Grundgesetzen der Natur und der Beschaffenheit von Materie und Energie abhingen.

      *

      Der Mann hatte inzwischen die Lobby durchquert. Er blieb vor Cutter stehen, lächelte ihm freundlich zu und fragte: »Herr Cutter?«

      Die Antwort blieb Cutter im Hals stecken, als er den zweiten Mann sah, der dem ersten dicht auf den Fersen ge­folgt war und erst jetzt in Cutters Sichtfeld geriet, als er einen Schritt zur Seite machte.

      »Ein Zwerg«, fuhr es Cutter durch den Kopf, »und ein seltsamer dazu!«

      Er betrachtete den Mann, der kaum einen Meter vierzig groß war und von dessen ansonsten kahlem Kopf nur noch ein paar isolierte Büschel grauer Haare wirr abstanden. Der Kopf, der auf einem unglaublich dünnen Hals saß, bekam durch die Schweinsaugen und das abgemagerte Ge­sicht mit den übergroßen, hervorstehenden Backen­knochen ein groteskes Aussehen. Der spindeldürre Körper, der im Entwicklungsstadium eines halbwüchsigen Kindes ste­ckengeblieben zu sein schien, war in eine zu große, schlaff herabhängende Uniform gehüllt, die den Zwerg als Fahrer eines Limousinen-Services auswies, der sämtliche Modeentwicklungen der letzten achtzig Jahre verpasst hat­te. Mit den Absätzen seiner schwarzen, glänzenden, über­dimensionierten Schuhe stand der Zwerg auf seinen Ho­sen­säumen.

      Cutter zwang sich, den Blick von dem Zwerg ab­zu­wen­den; er wollte ihn nicht unhöflich anstarren. Stattdessen mus­terte er den anderen Mann, der noch immer mit fra­gendem Blick vor ihm stand. Der Gegensatz zwischen beiden konnte nicht frappierender sein und ließ den Zwerg noch kleiner erscheinen. Der Mann war über zwei Meter groß und hatte einen imposanten, muskulösen Körper. Seine Statur, verbunden mit dem strohblonden Haar, das leicht auf dem Kragen seines Hemdes aufstand, hätte jedem Teutonen zur Ehre gereicht. Obwohl er einen un­auffälligen, leichten Anzug und ein blassblaues Hemd mit of­fe­nem Kragen trug, fiel es Cutter schwer, in ihm den erwarteten Fremdenführer zu sehen. Sein offenes Gesicht wirkte freundlich, und er besaß eine Ausstrahlung, die ihn auf den ersten Blick sympathisch wirken ließ. Und doch glaub­te Cutter eine undefinierbare Gefahr zu spüren, die von ihm ausging. Der Versuch, diesen Eindruck zu kon­kre­tisieren, schlug fehl. So betrachtete Cutter den Mann auf­merksam, doch fiel ihm nichts weiter an ihm auf, ab­ge­sehen von einem massiven goldenen Siegelring mit drei ineinander verschlungenen Buchstaben, die Cutter jedoch nicht entziffern konnte.

      »Ja, mein Name ist Cutter«, antwortete er.

      »Freut mich.« Der Mann streckte ihm die Hand ent­gegen. »Nennen Sie mich einfach Prometheus. Ich bin Ihr Rei­seleiter. Ich werde Sie in den nächsten drei Wochen auf Ihrer Tour durch Europa begleiten.«

      »Freut mich«, erwiderte Cutter seinerseits und schüt­tel­te dem Reiseleiter die Hand, ohne sich zu erheben, da der Kopf der schlafenden Joanne noch immer an seiner Schul­ter lehnte.

      »Ein seltsamer Name«, dachte Cutter. Er hatte nicht ge­wusst, dass in Deutschland ein solcher Vorname exis­tierte. Natürlich kannte er die Sage von Prometheus, doch wer kam wohl auf die Idee, seinen Sohn nach dem Un­sterb­lichen zu benennen, den Zeus zur Strafe an einem Felsen des Kaukasus hatte anketten lassen und