André Graf

Zeitenwende


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war es doch unbestreitbar, dass unser Körper nur für eine begrenzte Zeitspanne geschaffen war. Doch der Tod, wie auch das Leben selbst, setzte neben der Körperlichkeit noch etwas Weiteres voraus: die Zeit. Seit dreißig Jahren befasste sich Cutter als Physiker mit dem Phänomen von Raum und Zeit, doch erst vor gut zwölf Jahren hatten seine Frau Jennifer und er begonnen, an der Dimension Raum, wie die Menschen sie zu kennen glaubten, zu zweifeln. Da Raum und Zeit untrennbar mit­ein­ander verbunden waren, war es nicht überraschend ge­wesen, dass sie kurze Zeit später auch die Beschaffenheit der Zeit in Frage gestellt hatten. Diese Zweifel waren zur schmerzhaften Gewissheit geworden, als Jennifer starb. Seit jenem Ereignis lag er nachts oft wach im Bett und über­legte, wo die Seele seiner Frau sich in diesem Mo­ment wohl befinden mochte und in welcher Form Jennifer weiterexistierte. Diese Fragen waren bis heute offen­ge­blie­ben, war es ihm doch nie gelungen, sie befriedigend und widerspruchsfrei zu beantworten, weil er Jennifer sein Wort gegeben hatte, den letzten, entscheidenden Schritt nicht zu Ende zu führen, den er mit ihr begonnen und den seine Frau mit dem Leben bezahlt hatte. Hätte er den einmal ein­geschlagenen Weg weitergehen können – das wurde ihm in dieser Situation einmal mehr mit aller Brutalität bewusst –, so hätte er inzwischen vielleicht schon die Antwort auf diese uralte Frage gefunden.

      »Eine gute Antwort, die vieles – wenn nicht alles – offenlässt«, sagte Prometheus mit einem kaum sichtbaren Lächeln um die Lippen. Er war offensichtlich mit der Ant­wort zufrieden. Elegant wechselte er das Thema und plau­derte über eine Belanglosigkeit, die in fast schmerzhaftem Kontrast zu der eben gestellten Frage stand. »Immer diese Baustellen«, sagte er und zeigte nach draußen. Der Wa­gen war beinahe zum Stillstand gekommen. Auf drei Spu­ren stauten sich die Fahrzeuge auf der Autobahn. »Unsere Politiker haben nichts Besseres zu tun, als alljährlich wäh­rend der Urlaubszeit möglichst viele Reparaturarbeiten auf den Autobahnen in Auftrag zu geben. Das Resultat sind kilo­meterlange Kolonnen wie diese hier«, schimpfte der Rei­seführer scheinbar echt entrüstet, um nur einen Atem­zug später erneut das Thema zu wechseln. »Die Zeit ist das Problem!«, sagte er beiläufig.

      Cutter blickte ihn fragend an.

      »Nun«, meinte Prometheus, »wenn es keine Zeit gibt, kann es auch kein Leben geben; weder vor noch nach dem Tod.«

      Cutter zuckte zusammen. Prometheus bohrte weiter in sei­ner Seele, und Cutter spürte die Schmerzen wie bei ei­ner Wurzelbehandlung beim Zahnarzt.

      »Wie, glauben Sie, ist die Zeit beschaffen?«, ver­grö­ßer­te der Reiseführer erneut Cutters Schmerzen.

      »Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht hier«, wich Cut­ter aus, »dann würde ich in Stockholm den Nobelpreis für Physik in Empfang nehmen.«

      »Nicht mitten im Sommer«, grinste Prometheus, nur um gleich wieder ernst zu werden. »Was steht im Zentrum, Raum oder Zeit? Oder sind die beiden nicht vielmehr gleich­wertig?«, bohrte er weiter.

      Cutter spürte, dass jetzt der Moment gekommen war, das Gespräch zu beenden, wenn er nicht riskieren wollte, die Tiefe seiner Seele vor diesem Fremden bloßzulegen oder sich in unlösbare Widersprüche zu verwickeln.

      »Ich bin Physiker, wie Sie sicherlich den Unterlagen Ih­rer Firma entnommen haben«, erklärte er deshalb. »Raum und Zeit gehören zu meinem Fachgebiet. Doch da ich hier im Urlaub bin, möchte ich nicht über berufliche An­ge­le­gen­heiten sprechen. Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür.«

      »Natürlich«, sagte Prometheus mit einem bedauernden Ausdruck. »Natürlich akzeptiere ich Ihren Wunsch.« Ohne zu zögern wechselte er das Gesprächsthema und begann über die Sehenswürdigkeiten Süddeutschlands zu spre­chen.

      *

      Joanne hatte zuerst geglaubt, dass es sich bei dem Frem­denführer um ein körperloses Wesen handelte, doch hatte sie zwischenzeitlich entdeckt, dass alles viel schlimmer war: Sie war nämlich mit einem Mal auch von ihrem Vater getrennt, obwohl sie im Fonds der gleichen Limousine saßen. Scharf wie die Klinge eines Rasiermessers und gleich­zeitig unscharf wie ein weicher, warmer Luftzug ver­lief irgendwo zwischen ihr und den beiden Männern eine Grenze. Auf ihrer Seite dieser Grenze war sie alleine, auf der anderen saßen ihr Vater, Prometheus und der Fahrer, der seinerseits durch eine Glasscheibe von den beiden Män­nern im Fond getrennt war.

      Zum ersten Mal seit neun Jahren war sie von ihrem Vater getrennt. Die ersten acht Jahre ihres Lebens hatte sie ih­ren Vater kaum je zu Gesicht bekommen. Er war ein Workaholic gewesen, den sie höchstens einmal am Abend für einige Minuten oder an einem Wochenende für wenige Stunden gesehen hatte. So hatte sie nie einen Vater ge­habt, dem sie sich nahe und vertraut genug gefühlt hätte, um ihre kleinen Sorgen oder Geheimnisse mit ihm zu tei­len. Dann kam der unerwartete Tod ihrer Mutter, die Be­erdigung, bei der ihr Vater sie zum ersten Mal tröstend in die Arme geschlossen hatte, und die zehn dem Begräbnis fol­gen­den Tage, während denen ihr Vater verschwunden war. Niemand konnte ihr sagen, wo er sich aufhielt, nicht einmal ihre Großmutter, bei der sie nach dem Tod ihrer Mut­ter eingezogen war und die sich große Sorgen um ih­ren Schwiegersohn zu machen schien. In diesen zehn Ta­gen begann sie ihren Vater, zu dem sie zuvor ein emo­tions­loses Verhältnis gehabt hatte, zu hassen. Von Tag zu Tag wuchs der Hass auf ihn, bis dieses Gefühl die Trauer um den Verlust ihrer Mutter fast völlig verdrängt hatte.

      Nach zehn Tagen tauchte ihr Vater wieder auf, ebenso überraschend und kommentarlos, wie er verschwunden war. Entgegen den Wünschen ihrer Großeltern und zu ih­rer eigenen beträchtlichen Überraschung schickte er sie nicht in ein Internat, sondern forderte sie auf, ihre Sachen zu packen, und fuhr mit ihr zurück in die gemeinsame Woh­nung.

      Er gab seine Professur an der Universität auf, verkaufte seine zahlreichen Firmen, stellte all seine geschäftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten von einem Tag auf den anderen ein und kümmerte sich von diesem Moment an nur noch um seine Tochter, bis er zwei Jahre später be­hutsam, immer auf die Bedürfnisse seiner Tochter Rück­sicht nehmend, damit begann, sich eine neue Karriere auf­zubauen und seinen Platz in der Gesellschaft der Schönen und Reichen Montreals wieder einzunehmen.

      Es vergingen Monate, in denen sie ihrem Vater mit of­fener Ablehnung und rebellischem Widerstand begegnete, bis der Hass in ihrer Seele allmählich der Liebe Platz mach­te. Heute waren sie unzertrennlich. Joanne glaubte nicht, dass es irgendwo auf diesem Planeten eine Tochter gab, die ein innigeres Verhältnis zu ihrem Vater hatte, auch wenn sie nie herausgefunden hatte – und auch nie den Mut aufgebracht hatte, ihn danach zu fragen –, wo er in den für sie so schweren zehn Tagen nach dem Begräbnis ihrer Mutter gewesen war.

      Doch nun, in einem fremden Land, war sie von ihrem Vater getrennt worden. Die Trennung war tiefgreifend und schien – zumindest im Moment – unüberwindbar zu sein. Sie hatten sich nicht, wie es früher schon vorgekommen war, in einer Menschenmenge oder in einem Warenhaus aus den Augen verloren und sich dann wenige Stunden spä­ter im gemeinsamen Hotelzimmer wieder in die Arme geschlossen. Nein, sie saßen in der gleichen geräumigen Limousine und waren doch durch etwas getrennt, das Jo­anne nicht zu ergründen wagte.

      Sie berührte die unsichtbare Grenze mit dem Zeige­finger und spürte, ohne davon überrascht zu sein, dass dort, wo sie diese vermutet hatte, gar keine existierte. Sie konnte ihren Finger ohne Widerstand über die Grenze hin­ausführen, bis er den Arm ihres Vaters berührte. Doch konn­te sie diese Berührung ebenso wenig spüren wie zu­vor den Handschlag des Fremdenführers. Sie glaubte nur, ein beinahe unmerkliches Kribbeln in ihrem Finger zu füh­len. Auch ihr Vater schien die Berührung nicht zu be­mer­ken; zumindest reagierte er in keiner Weise darauf.

      Sie zog die Hand zurück und berührte den Türgriff, das Polster des Sitzes, auf dem sie saß, die getönte Scheibe der Türe und die kühle Colabüchse, die in einer Halterung steckte. All das konnte sie fühlen. Auch das Polster des Sitzes jenseits der imaginären Grenze leistete ihren tas­ten­den Händen Widerstand. Doch kaum glitt ihre Hand in Rich­tung ihres Vaters, fühlte sie sich an, als ob sie sich im luftleeren Raum bewegen würde. Das Auto war als Ganzes hier – wie hätte es sonst auch fahren sollen? Doch die bei­den Männer, jenseits der unsichtbaren Grenze, waren ih­rem Zugriff entzogen. Sie streckte ihren Fuß weit über die imaginäre Grenze hinaus und trat gegen den Boden. Kein