Hans Müncheberg

Project Mercury


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sah Scott eindringlich an. "Ehrlich, Scott, was kannst du tun, wenn du in der kleinen Gondel angeschnallt bist und das große Rad, die Zentrifuge, dreht sich, schneller, immer schneller, bis sich dein Körpergewicht verzehnfacht hat? Was machst du, wenn sich dann dein Gesichtsfeld verengt, wenn du keine Hand mehr heben kannst, wenn dir das Blut aus dem Gehirn gepresst wird und dir die Sinne schwinden?"

      "Nichts! - Und dann wissen die Ärzte, dass es soweit ist, dass sie den Motor ausschalten müssen." Scott stand nun vor Gilbert. "Lawrence, ich verstehe dich. Aber glaube mir, wir bleiben immer unter der Grenze. Das ist einfach zu überwachen. Solange ich noch intakt bin, bediene ich ein kompliziertes System von Hebeln und Signalgebern. Ich bekomme Aufträge über Kopfhörer und muss blitzschnell reagieren. Sowie meine Konzentration auch nur im Geringsten beeinträchtigt wird, bin ich nicht mehr in der Lage, die Anweisungen zu befolgen. Dann wissen die Ärzte im Messraum, wie es mit mir steht, und schalten ab."

      "Kann es nicht schon zu spät sein, um Nachwirkungen zu verhindern?"

      "Nein. Wir sieben Piloten sind der Gegenbeweis dafür. Wir fühlen uns alle bestens." Scott warf einen Blick auf den flachen Gartentisch. Gilberts Glas war leer und der Juice alle. Er stand auf. "Entschuldigt mich einen Moment. Ich muss Nachschub holen." Er ging ins Haus.

      Gilbert hatte sich wieder gesetzt und lehnte sich nun in den Stahlrohrsessel zurück. Er schaute unbeweglich auf zum nächtlichen Firmament. "Es fehlt nur die Brandung des Pazifiks", sagte er plötzlich mit leiser Stimme, "und es wäre alles so, wie an jenem Abend oben auf den Klippen der San Diego Bai."

      Betty wandte nicht den Kopf. "Lawrence, wir wollten nie mehr darüber sprechen."

      "Verzeih."

      Aus einem der Nachbarhäuser drang Musik.

      Betty nahm sich eine Zigarette und sah sich unwillkürlich nach der Terrassentür um. Gilbert richtete sich auf, um ihr Feuer zu geben. Einen Augenblick beleuchtete die Flamme ihre Gesichter, dann ließ er das Feuerzeug zuschnappen.

      "Manchmal glaube ich, es könnte mir gelingen, sentimental zu werden." Ein gewollt ironischer Unterton schwang in seiner Stimme.

      "Echtes Gefühl und Sentimentalität sind zweierlei." Betty sprach mehr für sich selbst.

      Sie schwiegen, bis Scott mit einer neuen Büchse Juice herauskam. Er goss Gilbert ein und nahm dabei den Gesprächsfaden an der Stelle wieder auf, an der er hinausgegangen war. "Der menschliche Organismus! Du ahnst gar nicht, Lawrence, was der für eine unglaubliche Maschine ist. Zu Beginn, hielt ich bloß das Achtfache der Erdbeschleunigung aus. Jetzt, wo ich an den Zirkus gewöhnt bin, beunruhigt mich nicht mehr das Sechzehnfache. Im Gegenteil! Ich genieße die Überbelastung, überhaupt alles, jede Minute, jede Kleinigkeit!"

      Gilbert musste lächeln, als er Scott wie einen großen Jungen schwärmen hörte, wie schön es sei, jetzt schon zu spüren, wie es einmal sein würde, wenn die große Stunde da wäre, wenn er oben an der Spitze der Rakete in der Kapsel sitzen würde, um hinauszufliegen in die dunkle Unendlichkeit. Gilbert hörte sich alles geduldig an und wechselte einen verstehenden Blick mit Betty, die die ganze Zeit still daneben saß, ohne ein Wort der Unterhaltung zu versäumen.

      "Ich brauche nur ein bisschen Phantasie, und ich weiß genau, wie es sein wird. Erst werde ich das Schütteln und Vibrieren spüren, wenn die Triebwerke zu arbeiten beginnen. Dann kommt der Andruck dazu, der mich stärker und immer stärker in die Konturencouch pressen wird. Der Lärm wird ungeheuer sein, das Zischen und Dröhnen der Motoren und der durchstoßenen Luftmassen. Es wird auch langsam wärmer werden durch die Reibungshitze der Luft. Und plötzlich, weißt du, so nach ungefähr hundertfünfzig Sekunden, werde ich einen Moment denken, es ist alles aus. Dann aber werde ich wissen, dass ich frei durch den Raum fliege. Kein Laut wird in der Kapsel sein, die sich von der Trägerrakete gelöst hat." Scott nahm die Hand von Gilberts Schulter, packte den Freund an den Armen und drehte ihn zu sich um. "Du solltest einmal mitfliegen, wenn wir zum Parabelflug starten. Das ist ein unwahrscheinliches Gefühl, wenn das Flugzeug mit äußerster Kraft Schwung holt und steil hoch fliegt, plötzlich die Motoren drosselt, und in einer flachen Parabelkurve frei durch den Raum fällt. Fünfzehn, zwanzig Sekunden bist du dann schwerelos. Im ersten Augenblick ist dir, als ob du ohne Halt ins Bodenlose fällst. Es gab auch welche, die bei den Auswahlprüfungen genauso wie im Spezialbassin Panik bekamen und die Nerven verloren. Wer aber alle fünf Sinne zusammennimmt, der genießt die Schwerelosigkeit. Du, das ist, als ob sich der uralte Traum erfüllt hat. Du schwebst frei in der Kabine, kannst fliegen, ohne Hilfsmittel. Eine Bewegung der Hand, und du drehst dich um die eigene Achse. Ein leichter Stoß gegen die Kabinenwand, und du schnellst wie im Hechtsprung schräg durch die Luft. Alles ist so leicht, so schwebend. Du fühlst dich wie der junge Ikarus - oder wie Gott Merkur mit den Flügelschuhen." Er sah, wie Gilbert sich über seine Begeisterung freute, brach ab, hieb verlegen mit der Faust in die flache Hand und brummte: "Na ja, eben, das ist schon was." Er ging wieder zu seinem Sessel und ließ sich auf den Sitz fallen,

      Da sprach auf einmal Betty. Ihre Stimme war verhalten und hatte einen dunklen, warmen Klang. "Jetzt, beim Training, habe ich schon keine Sorge mehr. Aber später, wenn es einmal soweit ist ..., dann fürchte ich, es könnte ihm gehen wie dem jungen Ikarus."

      "Aber Betty!" Scott beugte sich zu ihr und nahm ihre Hand.

      Sie sah ihn an, nickte ernst und wiederholte: "Doch, ich fürchte für dich." Plötzlich stand sie auf, ging zu Gilbert. "Lawrence, wenn ich wüsste, du leitest diese Flüge, ich brauchte keine Angst mehr zu haben."

      Gilbert sah sie an, sah die Bitte und das Vertrauen in ihren Augen und antwortete: "Ich werde mir alles noch einmal gründlich überlegen."

      Der Rückflug nach San Diego dauerte fast fünf Stunden. Zeit genug, um über die Entscheidung nachzudenken, die sein weiteres Leben bestimmen würde. Gilbert war ein Mensch, der immer genau wissen wollte, was er tat und wofür er es tat. Damals, als er nach seinem Examen zur Convair ging, waren diese Fragen leicht zu beantworten gewesen. Der Krieg war den USA von Japan und Hitlerdeutschland aufgezwungen worden. Die Nation musste sich verteidigen, und Gilbert leistete seinen Beitrag. Dem Schutz Amerikas diente auch die Arbeit der folgenden Jahre. Immer neue Waffen wurden entwickelt, mussten entwickelt werden, hieß es beschwörend, und Gilbert tat, was in seinen Kräften stand. Sein größter Erfolg als Konstrukteur war schließlich die Atlas. Die Anerkennung, die man ihm zollte, freute ihn, aber dann waren die Gedanken, die Empfindungen wieder da, die er stets vergeblich zu unterdrücken versucht hatte: War das offizielle Lob nicht zu sehr an die Tatsache gebunden, dass das Endprodukt seiner Arbeit eine Waffe war? Würde man dem Konstrukteur eines neuartigen, unsinkbaren Rettungsbootes gleich große Aufmerksamkeit widmen? Es gab nicht selten Augenblicke, in denen er sich durch solche Überlegungen in der Ausführung seiner Ideen gehemmt fühlte. Die Atlas war einzig und allein als Waffe, als Träger stärkster nuklearer Sprengkörper bestellt, konstruiert und gebaut worden. Eine Abschreckungswaffe? Gilbert konnte das Gefühl nicht loswerden, dass der Schreck zurückschlug, und der Gedanke machte ihn beklommen, die Gegenseite würde in jedem Fall auch solche Trägerraketen besitzen, wenn nicht sogar bessere und stärkere...

      Gilbert sah hinaus. Die gleißenden Wolkenbänke rissen auf und ließen den Blick aus einer Höhe von fast zehn Kilometern ungehindert bis zu den weiten Ebenen dringen, die sich jetzt, Anfang September, in einem schmutzigen Gelbbraun zeigten, selten nur von grünen Rechtecken durchsetzt. Dann aber veränderte sich das Landschaftsbild. Berge wuchsen unter dem dahinjagenden Flugzeug auf, die ersten Ketten der Rocky Mountains, Gilbert kannte die Flugroute genau. Er wusste, ein und eine halbe Stunde waren sie noch von der Westküste entfernt. Bald würde San Diego unter ihnen liegen. Gilbert lehnte sich zurück und ließ die Gedanken vorauseilen.

      Mit Bradley würde es Schwierigkeiten geben, so oder so. Die Spannungen der letzten Tage hatten deutlich genug gezeigt, dass der technische Direktor nicht gewillt war, Gilbert auch nur für eine Woche freizugeben. Die versteckte Drohung, wer erst einmal das Werk verlassen hätte, könne niemals zurückkommen, war unmissverständlich. Bradley wusste zu genau, wie sehr Gilbert an seiner schöpferischen Arbeit hing. Er wusste auch, dass es auf diesem hochspezialisierten Arbeitsgebiet kaum möglich war, woanders eine ähnliche Arbeit zu finden. Gilbert gab sich keiner Illusion hin. Falls er das