Nicolai Richter

Der Klarträumer


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hat dich etwas aus dem Konzept gebracht, zumindest sah es so aus.“

      „Kann sein. Der Typ war total schräg.“

      „Du siehst müde aus. Ruh dich aus und übernimm dich nicht. In drei Wochen bin ich wieder zuhause. - Okay, ich lass dich jetzt schlafen. Gute Nacht.“

      „Gute Nacht, Liebling.“

      Zehnder legte sich wieder ins Bett.

      11

      Drei Tage später

      Die Lichter auf die Gänge und Sitzreihen gingen aus, über die Lautsprecher wurden die hunderttausend Zuschauer gebeten, Platz zu nehmen und ihre Smartphones auszuschalten. Dann startete die Lichtshow auf der Bühne. Zuerst sah man einen schwebenden Lichtstreifen, der sich etwa einen Meter über der Bühne durch das grosse Orchester zog. Dieser Lichtstreifen breitete sich dann langsam aus, ging über in lila, dann violettes und rotes Licht, bis er das ganze Orchester in eine atemberaubende Atmosphäre getaucht hatte. In der Mitte vorne stand das Mikrofon in einem weissen Lichtkegel. Die Ouvertüre setzte leise ein mit den Kontrabässen, wurde lauter mit Violinen und Bratschen, es folgten Klarinetten und Fagotte. Und als Schlagzeug, Trompeten und Posaunen ins Fortissimo führten, betrat Jan Zehnder die Bühne. Dieser Abend war auch für ihn etwas Besonders, da er zum ersten Mal mit den Berliner Philharmonikern und Simon Rattle am Dirigentenpult auftrat. Das Orchester wechselte zu einem leisen und langsamen Intro, Zehnder stellte sich vors Mikrofon und sang mit kräftiger und souliger Stimme:

      „Starting here, starting now, when we walk, we walk together, year by year, starting here.“

      Beim Refrain schwebte Zehnder zehn Zentimeter über der Bühne. Da er sich nicht an die zweite Strophe erinnern konnte, sang er nochmals die erste.

      „Es war schon ein Jammer, dass er in der Realität zwar eine ganz gute Stimme hatte, diese aber weit entfernt davon war, was er in einem Klartraum fertigbrachte.“, dachte er, als er sich verbeugte.

      Er sang noch ein zweites Lied, hatte dann aber genug und flog durch die Nacht über die beleuchteten Strassen Berlins ins Olympiastadion.

      Dort stellte er sich das Halbfinale der WM 2014 zwischen Brasilien und Deutschland vor. Er schoss die zwei Tore von Khedira und Schürrle, die Spielzüge hatte er sich genau eingeprägt. Als krönenden Abschluss setzte er noch das WM-Tor von Götze im Finale drauf. Als er dann dem vollen Mond entgegenflog, schrie er so laut er konnte:

      „Ich bin ein Gott! Ich bin der affengeilste Stecher, den der liebe Gott unter die Sonne gesetzt hat!“

      Auf dem Mond setzte er sich auf einen schwarzen Sessel und liess sich von Lilli Astaire einen Wodka Martini bringen. Er schaute auf die Erde, die Bilder entsprachen den Videos der NASA, die er sich auf Youtube angeschaut hatte.

      Er wusste zwar, dass er in diesem Moment in seinem Bett in Steglitz lag und das alles nur träumte. Aber was war das für ein geiles Gefühl! Und so schlecht war sein wirkliches Leben auch nicht, mit seinen Vlogs war er längst ein Star, vor allem bei den 14 bis 35Jährigen. Ausserdem verdiente er ein Schweinegeld und konnte sich die TV-Auftritte in den Staaten, in Kanada und in Europa inzwischen selber aussuchen. Nur mit der Liebe haperte es ein bisschen, er mochte Annette zwar immer noch, aber die grosse Euphorie der ersten Jahre, in der er nicht genug von ihr kriegen konnte, waren längst vorbei. Und das passte irgendwie gar nicht in seine übrige Lebenswelt hinein, in der er von einem Kick der Glücksgefühle in den nächsten jagte. Zehnder schaute noch eine Weile in die Planetenlandschaft hinein, als er plötzlich aus seinen Träumereien hinausgerissen wurde:

      „Ich heisse übrigens Valerio.“

      Neben ihm sass der schlaksige Teenager aus der Sendung vor einer Woche. Doch jetzt trug er einen dunkelblauen Anzug, die Jacke hielt er mit dem Daumen hinter seinem Rücken. Und er war auch nicht mehr der schlaksige Junge im TV-Studio, sondern ein athletischer, grosser Mann anfangs 20. Das Einzige, was ihn noch an den freakigen Teenager erinnerte, waren seine hellblauen Augen, mit denen er ihn jetzt eindringlich und herausfordernd anschaute.

      „Wie konntest du in meinen Klartraum eindringen?“

      Diese Frage ergab nicht wirklich Sinn und Zehnder wusste es in dem Moment, in dem er sie stellte. Aber er hatte es sich angewöhnt, seinen Traumfiguren mit Respekt zu begegnen, da sich die Träume dann meistens spannender entwickelten.

      „Ha, ha! Das weisst du. Ich musste es mir einfach nur wünschen.“

      Auch das war natürlich Blödsinn. Über Shared Dreams, also luzide Träume, in denen sich Klarträumer begegneten, wurde in seinen Foren zwar viel geschrieben, aber niemand in der Community glaubte ernsthaft, dass so etwas möglich war.

      „Und was willst du von mir?“, fragte Jan Zehnder, als Valerio bereits aufgestanden war und sich die Hemdärmel hochkrempelte, wodurch seine muskulösen und tätowierten Arme zum Vorschein kamen.

      „Wie wär es mit einem kleinen Kampf?“

      Zehnder überlegte sich, welche Youtube-Videos er sich zu Karate und Thaiboxen angeschaut hatte, aber Valerio kam ihm zuvor.

      „Wie wärs mit den Kampfszenen zwischen Neo und Morpheus im ersten Teil der Matrix-Trilogie?“

      „Das ist perfekt!“, diesen Film hatte er sich immer wieder angesehen. Trotzdem sagte er sich den Link dreimal hintereinander laut vor, um die Szene in sein Gedächtnis zurückzurufen:

      „Neo versus Morpheus im Sparringprogramm“

      Zehnder wählte die Rolle von Morpheus. In dem dunkelblauen Anzug stand er nun auf dem hellen Holzboden, Valerio in einem weissen Kun-Fu Anzug ihm gegenüber. Der Kampf begann. Mit Leichtigkeit parierte er die Schläge und Tritte seines Gegenübers, wusste er doch, dass er sich in diesem Augenblick in seinem Bett befand und sein Gegner nur ein Teil seiner selbst war. Im Film lag Neo an der Maschine des Sparringprogramms, durch das er in seinen Avatar und in den Kampfraum hineinversetzt wurde. Im Gegensatz zu Keanu Reeves, der die Szene Stück für Stück vor der Kamera einspielen musste, flog Zehnder nun tatsächlich durch die Luft und jede seiner Bewegungen fühlte sich absolut real an. An einzelne Sätze in dieser Filmszene konnte er sich spontan erinnern und baute sie in seinem Klartraum ein:

      „Glaubst du, das ist Luft, was du jetzt atmest?“

      Valerio in der Gestalt von Neo schüttelte den Kopf.

      „Richtig“, dachte Zehnder, „in Klarträumen gibt es keine Luft und somit auch keine Gerüche.“

      Sie kämpften weiter. Als er Neo den Balken hochrennen sah, wusste er, dass er ihn mit dem nächsten Schlag gegen den Balken schleudern würde und er den Kampf gewonnen hatte. Und so geschah es.

      „Das Programm simuliert die Regeln der Realität. So wie die Schwerkraft zum Beispiel. Es gibt Regeln, an die wir gebunden sind, und Regeln, die wir brechen können.“, sagte Zehnder in der Rolle von Morpheus.

      Er überlegte, an welche Regeln er in einem Klartraum noch gebunden war. Es waren nur die Grenzen seiner Vorstellungskraft.

      Zehnder hatte Lust, noch etwas in der Welt der Matrix zu verweilen. Er wollte aber keine Szenen mehr nachspielen, sondern neue Episoden erleben. Deswegen überliess er jetzt Valerio die Regie in seinem Traum. Als sie sich auf dem Boden wälzten und er Neos warmen Atem spürte, überlegte er sich, mit wem er jetzt eigentlich Sex hätte, wenn sich der Kampf nun in eine völlig andere Richtung drehen würde. Mit sich selber? Mit Neo, mit Valerio? Oder möglicherweise mit einer Frau im Traumkörper eines Mannes? Er hätte es gerne herausgefunden, als ihn Neo plötzlich am Kragen packte und sich in einen wunderschönen bleichen Vampir verwandelte, der seine Zähne in seine Halsschlagader rammte. Ein unglaubliches Wonnegefühl breitete sich in seinem Körper aus, es fühlte sich an, als hinge er wieder als Säugling an der Brust seiner Mutter. Sein Körper zog sich langsam zusammen und floss mit dem Blut in den Körper von Neo, bis er ganz die Gestalt, das Wesen, Seele und Geist seines Parasiten eingenommen hatte. Sein ausgesaugter Körper war auf die Grösse einer zarten kleinen Gummipuppe zusammengeschrumpft. Er nahm die Puppe in seine Hand und quetschte sie zusammen,