Nicolai Richter

Der Klarträumer


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Lichtpunkt verschwand.

      Als er sich wieder zurück auf seinen Sessel setzte, erschienen zwei Agenten aus der Matrix in dunklen Anzügen mit diesen coolen Sonnenbrillen. Doch wie er genauer hinschaute, sah er, dass es Kevin und Lea waren. Seine ehemaligen Mitschüler, mit denen er die wichtigsten Jahre seiner Teenagerzeit verbracht hatte. Und mit denen er vor vier Jahren seine Firma Lucidity.ch aufgebaut hat. Sie waren seitdem zu gleichen Teilen Teilhaber des Unternehmens.

      Lea hatte ihre roten Haare fest zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, ihre dunklen Augen glühten aus dem blassen, fein geschnittenen Gesicht. Kevin trug sein dichtes, dunkelblondes Haar halblang und trotz seiner männlichen Gesichtszüge wirkte er durch die vollen Lippen und die wässrig hellblauen Augen immer noch jugendlich. Sie stürzten sich auf ihn wie zwei gefallene Engel aus der Dunkelheit. Es entbrannte ein wilder Kampf. Sie schlugen sich im gleissenden Licht der aufgehenden Sonne mit Laserschwertern und sie kämpften mit den Fäusten auf den Dächern von Wolkenkratzern.

      Zehnder versuchte sie mit seiner Gedankenkraft aus seinem Traum zu verjagen. Er liess sie verbrennen, er liess sie in die Luft sprengen oder zerriss und zerstückelte sie. Doch jedes Mal waren sie sofort wieder da. Zwischendurch lag er so ermattet und müde zwischen den Trümmern ihres Gefechts, dass er sich am liebsten geweckt hätte, aber irgendetwas trieb ihn immer wieder zurück in den Kampf.

      Am Ende seines Traumes versuchte er sich zurückzuziehen, doch hierfür brauchte er eine Tür, zu der nur er den Schlüssel hatte. Also zog er den Kampf auf seine Jacht am Wannsee. In der Kajüte warf er mit Gegenständen auf Kevin und Lea, um sie abzuwimmeln. Einmal hatte er Kevin im Schwitzkasten und versuchte, ihn mit einem Kissen zu ersticken, aber er konnte die beiden nicht besiegen und gab irgendwann entnervt auf und weckte sich, indem er einfach die Augen aufmachte.

      Er stand auf, machte ein paar Liegestütze und trank einen halben Liter Mineralwasser. Kurz vor fünf Uhr morgens legte er sich wieder hin.

      „Wie seltsam“, dachte er, „dass ich mit den wichtigsten Menschen meines Lebens um Leben und Tod gekämpft habe. Wo wäre ich heute ohne sie? Mit Kevin habe ich die ersten Vlogs gedreht. Kevin hat auch die ganze Vermarktung ins Laufen gebracht. Und Lea hat das Forum aufgebaut.“

      Ausserdem versorgte Lea ihn, Annette, Kevin und Salome mit der Marihuana-Seif, die sie sich auf das Zahnfleisch oder in die Nase schmierten, wenn sie während der Arbeit etwas THC brauchen konnten, um kreative Lösungen zu finden, oder abends, um wieder runterzukommen.

      Doch nicht im Traum hätte er in diesem Moment, kurz bevor er einschlief, daran gedacht, dass dieser verstörende Klartraum mit Lea und Kevin bereits dabei war, sich seinen Weg in die Wirklichkeit zu bahnen, wo er kurz davorstand, seine unbewussten Ängste wahr werden zu lassen.

      12

      Potsdam Babelsberg, drei Tage später

      Die Aufnahmen für seinen nächsten Vlog verliefen voller Pannen und Versprecher. Als sie um vier Uhr nachmittags immer noch nicht fertig waren, wurde die Stimmung hektisch und gereizt.

      Zehnder musste einen grässlichen Hangover überspielen. Und er hätte nicht mehr sagen können, was er in der letzten Nacht alles getrunken hat, in welchen Lokalen er gewesen ist und wie er in diesem Zustand mit seinem Jaguar zu seiner Jacht gefahren ist. In der er dann gerade mal drei Stunden geschlafen hat, bevor er noch halb betrunken mit dem Taxi nach Babelsberg fuhr. Aber es lag nicht nur an ihm. Sein Geschäftspartner Kevin Treiber war auch mies drauf, aber aus einem anderen Grund.

      Das Management wollte ihn in den Vlogs nun überhaupt nicht mehr auftreten lassen, da die Shitstorms in den Foren trotz vorgenommenen Veränderungen nicht nachgelassen hatten. Seine Aufgabe bestand bis anhin darin, die verschiedenen Traumfiguren in den Klarträumen von Zehnder nachzuspielen. Leider hatte sich bei Treiber im letzten Jahr dabei eine Attitüde eingeschlichen, die besonders bei den Jugendlichen überhaupt nicht gut ankam, da man ihm beim Spielen seine Selbstverliebtheit deutlich anmerkte.

      Vor ihrer gemeinsamen Karriere war er mal ein ziemlich guter Schauspieler und kurz davor, auf den grossen Bühnen durchzustarten. Doch der plötzliche Erfolg mit Lucidity.ch und vor allem das viele Geld würgten seine Schauspielkarriere ab. Und so machten andere an seiner Stelle die Karriere. Dass er nun auch in den Vlogs von Lucidity.ch immer mehr zur Randfigur wurde, schlug gewaltig auf sein Selbstwertgefühl. Er fing an zu trinken und heulte sich bei den osteuropäischen Nutten in Berlins Luxusbordellen aus. Zehnder gegenüber wurde er immer gehässiger, weil der nun mal bei den Kids durch seine natürliche Coolness und seine unverschämten und politisch unkorrekten Sprüche sehr beliebt war.

      Sascha, der Maskenbildner, wischte und puderte an Zehnders Gesicht das Makeup zurecht, um die Augenschatten noch etwas besser aufzuhellen.

      „Mach mal vorwärts Dicker. Wir müssen mal fertig werden.“, nervte sich Salome Knauss, seine Regisseurin, eine hagere Frau um die 50 mit schwarz gefärbten Haaren, die sich um das Rauchverbot toupierte und eine Marlboro rot nach der anderen paffte.“

      „Wenn ihr mich hetzt, dauert es noch länger.“, zischte Sascha zickig zurück.

      „Ich fand die Aufnahmen sieben und neun gar nicht so schlecht. Können wir nicht einfach aufhören?“, Zehnders Stimmung hatte inzwischen ihren Tiefpunkt erreicht.

      „Die waren ganz okay, aber du hast wesentlich mehr drauf.“, bemerkte Kevin trocken, „Reiss dich mal ein bisschen zusammen. Ein Schauspieler muss auch gut sein, wenn er sich mal nicht so prickelnd fühlt. Sonst könnte das ja jeder. Aber mich fragt ja keiner.“

      Am liebsten hätte Zehnder Kevin in diesem Augenblick aus dem Studio gejagt, aber eine solche Blamage vor der Crew hätte beiden geschadet. Also riss er sich zusammen und stellte sich wieder vor die Kamera, die ihn von oben in einer Halbtotalen filmte.

      „Hallo liebe Freunde, WILLkommen auf meinem Video. Ihr seid die ERSTEN, die auf meinem Video etwas vom Mindsurfing erfahren werden. WAS Mindsurfing IST, werde ich euch jetzt gerne auf diesem Video mitteilen.“

      Zehnder kneift das rechte Auge zu und versucht mit seiner Mimik einen jungen Mann mit Hauptschulabschluss darzustellen, der versucht, bei seinen Zuschauern krass intellektuell rüberzukommen, aber durch seine Überbetonungen und die bemühte Wortwahl sofort auffliegt.

      „Und zwar mache ich mal eine kleine Einführung. Wie man das Ganze machen kann und WOZU man das machen kann. Ich mache es, weil es die KRASSESTE Sache in meinem Leben ist, die ich je erfahren habe. Es ist wirklich das UNGLAUBLICHSTE das … UNBESCHREIBLICHSTE, was in eurem Leben passieren kann.“

      „Jan, was soll der Scheiss!“, Salome Knauss löschte hektisch ihre Zigarette, „Wir sind hier nicht in der Comedy Show auf Pro 7.“

      „Ha, ha! Du spielst Orkhan besser als dich selber.“

      Die Bewunderung von Kevin Treiber war echt. In ihren ersten Videos hatten sie viel rumgeblödelt. Und Zehnders Parodien waren immer noch ein Renner auf Youtube.

      „Ja dann mach doch den ganzen Vlog als Orkhan, Hauptsache wir werden mal fertig.“, Salome Knauss meinte es ernst und so schlecht war die Idee wirklich nicht.

      „Ja, mach das!“, unterstützte sie Treiber.

      „Okay, ich versuch es. Was war schon wieder das zentrale Thema für diesen Vlog?“

      „Schlaflähmung.“, grinste Salome Knauss.

      „Was?“

      „Schlaflähmung! Dein Horrortrip in Singapur.“ Treiber strahlte bis in die letzte Zahnreihe.

      „Da waren aber noch ein paar andere Sachen mit im Spiel.“

      „Kommt nicht in Frage. Drogen können wir überhaupt nicht gebrauchen.“, entgegnete Salome Knauss entschieden.

      „Dann lass sie weg und…“

      „Ich habs“, wurde Treiber von der Knauss unterbrochen, „erwähne die Drogen, aber ersetze sie durch einen Platzhalter. Anstatt LSD sagt du zum Beispiel…“

      „Kamillentee.“

      „Kamillentee