Andrea Lieder-Hein

Du weisst, warum...


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Ich habe dich immer so vermisst, Emily.

       Und warum bist du dann nicht zu uns gekommen?

       Lasse wollte es nicht.

       Papa wollte es nicht? Du lügst, Papa hat sich nichts sehnlicher gewünscht. Immerhin war ich erst sechs, und er musste arbeiten. Da hätte er dich gut brauchen können. DU LÜGST!!!

       Du gingst dann schon zur Schule, und er wusste, wie sehr ich unter dem Tod von Jella gelitten habe.

       Ich konnte nichts dafür, Mama. Jella rannte einfach los.

       Ja, so hast du das damals behauptet. Aber die Spaziergänger am Strand haben es anderes berichtet.

       WAS denn?

       Jella ist an der Wasserkante entlang gelaufen, und du hinterher.

       Ja, das stimmt.

       Dann plötzlich war da dieser Priel, und Jella lief einfach hinein.

       Ja, und ich hinterher. Ich wollte sie rausziehen.

       NEIN, du hast sie hineingeschupst. Reingedrückt ins Wasser.

       NEIN. Mama, was behauptest du da?

       Nicht ich, Emily, sondern die Leute um euch herum.

       Und warum bin ich nie verurteilt worden? Oder in so ein Heim gekommen?

       Weil du nicht strafmündig warst, mit sechs Jahren.

       Und die Leute? Warum haben sie Jella nicht geholfen?

       Du musst dich nur erinnern. Versucht haben sie es, aber Jella wurde mit der Strömung hinweggesogen. In Sekunden. Weggerissen, ins offene Meer.

       Und wo warst DU?

       Ich war gerade unterwegs, für euch Pommes holen. Erinnerst du dich nicht? Ihr habt gequengelt. „Mama, bitte, hol uns Pommes“, und Papa hat alles versucht, Jella zu retten, aber vergebens.

       ICH WAR NICHT SCHULD!

       DOCH!

       Du warst nicht einmal mehr da, als Jella gefunden und beerdigt wurde.

       Nein, da war ich schon weg. Aber Papa hat mir geschrieben, damals. Die sofort eingeleitete Rettungs- und Suchaktion blieb doch erfolglos. Ich habe gedacht, sie sei tot. Sie konnte nur tot sein. Bei den Temperaturen in der Nordsee.

       Erst drei Wochen später wurde Jellas Leiche dann endlich von einem Hubschrauber entdeckt. Mehrere Kilometer weiter westlich von dem eigentlichen Unglücksort in St. Peter-Ording. Dann wurde sie endlich geborgen und beerdigt. Was von ihr übrig war.

       Papa hat DIR geschrieben?

       Ja, mein Herz. Auch schon vor der Beerdigung.

       Nun liegt Papa neben Jella. Seit drei Wochen.

       Ja, mein geliebter Lasse. Erzähl mir von ihm. Von seinem Unfall. Von eurem Leben. Das hilft. Dann kannst du alles besser verarbeiten.

       Papa war wie immer mit seinem Fahrrad unterwegs. Hat seine Post verteilt. Dann hat ihn ein Laster übersehen und überfahren. Er war sofort tot. Ich durfte ihn auch gar nicht mehr sehen, so zugerichtet war er. Und die Post ganz über die Unfallstelle verteilt und voll Blut. Da haben sich viele beschwert.

       Emily, wir werden hier einige Tage zusammen verbringen, um alles zu verarbeiten. In neun Tagen wirst du 20. Das feiern wir, und dann bist du endlich frei. Auch tief drinnen in deinem Herzen.

       Es ist auch Jellas Todestag.

       Eben. Und bis dahin wirst du schön nachdenken, was damals genau geschah.

       Mama, lass bitte das Licht an, ich fürchte mich sonst.

       Nein, Emily. Zum Nachdenken braucht’s Ruhe und Dunkelheit. Keine Ablenkung. Du hast eine kleine Steckdosen-Leuchte. Die reicht für das Nötigste. Waschen, Zähne putzen, Klo und Nahrung.

       Waschen? Wie denn? WO denn?

       Ach, richtig. Hier, Handtücher, Waschlappen, Zahnpasta und Zahnbürste, Gurgelwasser und ein paar Slips zum Wechseln. Dann noch eine Haarbürste. Bei deinen langen Haaren brauchst du eigentlich einen Föhn. Eine Steckdose gibt es bei dir leider nicht. Also entfällt Haare waschen. Sonst erkältest du dich noch hier unten. Und wenn deine Haare fettig werden, mach dir nichts draus. Sieht hier unten sowieso keiner.

       Du hast nichts gegessen?

       Nein, ich habe keinen Hunger.

       Bis später, Emily. Und nutze die Zeit.

      Die Clique

      Piet Demel versuchte zum hundertsten Male, seine große Liebe Emily Pedersson zu erreichen. Aber ihr Handy war tot. Wo war sie bloß? Piet machte sich große Sorgen. Seit Samstag, als er sie das letzte Mal im Milliöh gesehen hatte, war sie verschwunden.

      Piet war an diesem Samstag mit der Clique unterwegs gewesen, wie jedes Wochenende. Emily war immer dabei, aber sie hatte später am Abend irgendwie Stress mit Martje und Eva gehabt. Deshalb wollte sie gegen Mitternacht noch kurz in den Fêtenkeller, zum Abchillen. Seitdem war sie wie vom Erdboden verschwunden. Und ihr Handy tot.

      Gegen drei Uhr nachmittags hielt Piet es nicht mehr aus. Seit Emiliys Vater kurz vor Weihnachten von einem LKW überfahren worden war, schien sie nicht mehr sie selbst. Piet machte sich große Sorgen und wünschte sich, Emily würde ihn näher an sich ranlassen. Aber nein. Das Gegenteil war der Fall. Sie wurde immer verschlossener und trank auch härtete Sachen. Vielleicht hatte sie sich was angetan. Nein, er musste Hilfe suchen. Er würde sie als vermisst melden, auch wenn sie später sauer auf ihn war.

      Piet wohnte in Kiel und fuhr deshalb mit seinem Rad zur dortigen Polizeidienststelle. Mit einem flauen Gefühl im Magen schaute er auf eine Tür im Gebäude. Hauptkommissar Joost Christianssen stand auf einem Schildchen. Piet klopfte und betrat nach einem fröhlichen „Herein“ das Büro des Beamten. Etwas nervös und unsicher schilderte Piet seine Befürchtungen. HK Christianssen führte ihn zu Okka Madsen, die solche Fälle bearbeitete.

       Moin, Herr ...

       Piet Demel. Ich vermisse meine Freundin. Nein, eher gute Freundin.

       Moin, Herr Demel. Nehmen Sie doch bitte Platz. Ich heiße Okka Madsen und bearbeite Vermisstenfälle. Was ist passiert?

       Ja, ich war mit meiner Clique in Kiel im Milliöh und da haben wir bisschen gequatscht und gefeiert. Martje hatte Geburtstag.

       Ja, und dann?

       Dann haben sich Martje und Emily gezofft, weil Martje zum Geburtstag von ihrem Vater ein iPhone geschenkt bekommen hatte und Emily zu Weihnachten ein Samsung.

       Und warum haben sie sich gestritten?