Dieter Pflanz

Flirrendes Licht


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      Wisse sie nicht, aber bestimmt habe er es ihr geschrieben. „Erzähl!“

      Schon nach vier, fünf Tagen sei er aus dem Krankenhaus entlassen worden. Die hätten freie Betten gebraucht, ihn rausgeschmissen. Mit Riesenwunde von Scham- bis Brustbein. Vorher natürlich gefragt, ob er sich schon stark genug fühle. Und eine Stunde vor der Abfahrt sei dann der Onkologe gekommen -.

      Er lächelte, seine Zungenspitze benetzte die Lippen.

      „Junger Mann Mitte Dreißig, in Jeans, T-Shirt, gar nicht wie ein Arzt. Wirkte irgendwie intellektuell, bestimmt Habilitierter oder kurz davor. Der fing so an, ohne Einleitung: ‚Darüber müssen wir uns klar sein: mit einundneunzigkommasechsprozentiger Wahrscheinlichkeit kommt diese Krankheit zurück!‘ Warum das so sei, darüber stritten die Leute, einige meinten, es seien die zurückgebliebenen Krebszellen im Blut, andere glaubten eher an Prädestination des Körpers für Krebserkrankung. Doch ich sei jetzt einundsechzig, habe ein Leben gehabt. Meine Chance sei das Messer! Sobald irgendwo neue Tochtergeschwülste auftauchten, sofort herausschneiden!“

      „Das hat er wirklich gesagt?“

      Helmut nickte „Und ganz zum Schluss hat er gegrinst und gesagt: ‚Doch vielleicht haben Sie auch Glück ... und gehören zu den zehn Prozent, bei denen der Krebs nicht wiederkommt.‘ Das so ungefähr der letzte Satz, bevor er ging, und ich nach Hause fahren durfte.“

      „Die müssen natürlich dafür sorgen, dass die Patienten auch später noch funktionieren, die Nachsorgen exakt einhalten“, meinte sie nachdenklich.

      „Sicher … ich bin dem auch nicht böse. Und bei mir hat er es wirklich prima hingekriegt: die einundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit sitzt mir seitdem wie eingeschossen im Gehirn.“

      Sie lachten.

      3

      Und jetzt müssten sie wirklich weiter, sonst verderbe der Kuchen noch. Seitdem sie nichts mehr zu tun habe, backe sie selbst Kuchen. „Früher habe ich den von meinen Sekretärinnen besorgen lassen - . Und wenn ich mal eine Party hatte, haben mir Frauen aus unserer Kantine geholfen. Heute: alles selbst!“ Und nach einer Pause: „Hätte ich mir damals auch nicht vorstellen können - .“

      Sie lachten.

      Als der Wagen aus der tief eingefahrenen Wiese nach rechts in einen breiteren Weg einbog, lagen voraus plötzlich zwei Häuser. Anscheinend nicht groß, versteckt hinter Büschen, Bäumen. Helmut versuchte, sich zu erinnern, doch alles wirkte fremd. Er zuckte mit den Schultern, sagte: „Überhaupt keine Ahnung, wo wir sind - . Haben wir hier wirklich mal gelebt?“

      Freya nickte, zu ihrer Zeit seien hier aber Wiesen, Ackerland gewesen. Später dann das Aufmarschgebiet der Panzer, Truppentransporter, Geschütze. Wenige hundert Meter weiter, den Berg hinunter, den sie eben gekommen seien, habe der Truppenübungsplatz der Russen begonnen. Einer der größten im Land, dreißig, vierzig Kilometer weit nach Norden offen. „Die konnten hier mit allem schießen: in Panzergefechten, mit schweren Geschützen, Raketenwerfern. In dem langgestreckten großen See unten, dem Großen Seutel, sollen sie ständig mit Amphibienfahrzeugen geübt haben, hat man mir erzählt. War hier natürlich totales Sperrgebiet.“

      „Ist das etwa unser Haus dahinten?“

      „Nein“, sagte sie mit ironischem Unterton, „nur die Vorwerke - .“

      „Hat es die damals schon gegeben? Keine Erinnerung, nicht die geringste.“

      Die habe es gegeben, bewohnt von vielen Flüchtlingen. Die Kinder dort seien aber weitaus jünger als sie gewesen. Jetzt seien es Ferienhäuser. Unten im Dorf werde erzählt, Stasileute hätten sie sich nach dem Abzug der Russen unter den Nagel gerissen. „Auf solche Gerüchte darf man aber nichts geben - ich selbst laufe bei denen auch unter Stasiprofiteur. Die fallen immer vom Hocker, wenn ich ihnen erzähle, dass das Haus von meinen Urgroßeltern vor über hundert Jahren gebaut worden ist, unser Opa hier bereits als Kind seine Ferien verbracht hat und wir als Familie in den Kriegs-, Nachkriegsjahren darin gelebt haben! Ich sei hier zur Schule gegangen - . Zum Glück gibt es noch ein paar alte Leute im Dorf, die mich von früher her kennen, meine Angaben bestätigen können.“ Was wichtig sei, da durch den wirtschaftlichen Niedergang sich regelrechter Verfolgungswahn breitmache: die alten Parteibonsen, raffgierige Wessis, Stasileute.

      Sie schaute nach vorn, ihr Mund verkniffen. „Und da hinten kommt jetzt wirklich das Haus ... unser Haus.“

      „Auch das erkenn ich nicht.“

      „Es ist es aber“, sie lachte, „inzwischen sind natürlich jede Menge Büsche, Bäume gewachsen. Früher war alles kahl, nur der Garten drumrum.“ Das Auto bog in das offene, schief hängende Tor ein, auf dem Kies Knirschen der Reifen. Sie war beim Aussteigen, da hatte der Hund sich bereits an den Vordersitzen vorbei nach draußen gezwängt. Bellend rannte er nach hinten ums Haus, kam bellend an der anderen Seite wieder zum Vorschein.

      Wenn mit dem Auto länger unterwegs gewesen, seien oft Rehe im Garten: das seine Hoffnung, sein voraus entworfenes Glück. Seine sich selbst entworfenen Glücksgefühle.

      „Hat er schon mal eins erwischt -?“

      „Nein, die sind viel zu schnell. Ich bin mir auch sicher, dass er ihnen nichts täte, nur sein Triumph, sie zu vertreiben. Dies hier ist sein Garten!“

      Helmut ging ums Haus, kam auf der anderen Seite zurück. Noch immer keine Erinnerung, oder kaum. Sei das nicht größer gewesen -? In den Bildern seiner Erinnerung viel höher. Und das Dach: völlig anders!

      Das könne sein. Große Zementpfannen habe es früher, zu Opas Zeiten, nicht gegeben. Die Pfannen hätten wohl irgendwann erneuert werden müssen, seien Jahrzehnte alt gewesen.

      „Und hier haben wir wirklich alle gelebt?“

      „Ja.“

      „Wie viele waren wir?“

      „Nach meiner Zählung bis zu zehn: später mit den Zwillingen, Tante Gerda, Onkel Willi. Im Krieg, als Oma noch lebte, fünf. Und das war ja unsere Chance, die wir gleich genutzt haben -. Als die aus Polen noch bei uns unterkrochen, aus Pommern. Sie kamen hinzu ... und wir verschwanden in unser Haus.“

      „Zuerst ich!“ sagte Helmut. „Der Schuppen steht noch, habe ich eben ganz ergriffen festgestellt -.“

      Wie früher, nur etwas verfallener. Sie gingen ins Haus, seine Schwester griff nach der Zigarettenschachtel auf dem Tisch. Das Rauchen habe sie immer noch nicht aufgegeben, allein ins Auto nehme sie Zigaretten nicht mehr mit. Eisern. Und sehr stolz, dass sie wenigstens das schon geschafft habe. Doch sie sei furchtbar nervös, müsse jetzt unbedingt rauchen.

      „Meinetwegen brauchst du nicht nervös zu sein, Frey -.“ Er lachte, nahm sie in den Arm, streichelte ihren Rücken, Nacken.

      „Ich weiß, weiß ... doch sieh mal die Hände. Mir schlägt das Herz bis in den Hals. Höher, höher - bis in Schläfen, Haarspitzen.“ Sie schaffte es mit dem Streichholz, nahm einen tiefen Zug, öffnete ein Fenster. Die Augen geschlossen, versuchte sie gleich, den Rauch nach draußen zu blasen. Sie zerdrückte die halbe Zigarette an der Fensterbank, warf sie nach draußen.

      So … und jetzt habe er Hunger, sagte Helmut, setzte sich unaufgefordert an den gedeckten Tisch, Riesenhunger. Doch die Tischdecke kenne er! Nichts im Haus erkenne er wieder - doch die Tischdecke. Die sei bestimmt von Mutti.

      „Ich mochte sie nicht wegwerfen -.“ Freya lachte, goss Kaffee ein, plauderte. Er überlegte, ob er um Tee bitten könne, da er Kaffee schlecht vertrug, ließ es.

      Sei schon komisch, wie man in neuen Situationen plötzlich nach alten Verhaltensmustern suche. Sie überlege immer, wie Mutti das und das gemacht habe, wenn sich Besuch anmelde, gehe Jahrzehnte zurück in die Erinnerung. Das macht frau so ... das nicht ... dieses noch wieder anders. Sie habe auf hausfraulichen Gebieten kaum Erfahrung gehabt - habe natürlich als Kind, weibliches Wesen, von den vielen Frauen in diesem Haus alles lernen