Dorothee Lehmann-Kopp

Ein eigenes Leben wagen


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war es mit einem Schlag. Julie, die im Juni elf Jahre werden würde, stand der Mund offen, sogar die sechsjährige Caroline schien die Ungeheuerlichkeit dieses Ansinnens ihrer Schwester zu verstehen. An des Großvaters Stirn pochte eine Schläfe. Maries Vater, der Rechtsanwalt Rudolph Kleinschmit, räusperte sich. „Schließ den Mund, Kind“, sagte er zu Julie. Dann wandte er sich Marie zu. „Ich verstehe vollkommen, dass Du die Schule und Deine Freundinnen vermissen wirst. Aber“, er tupfte mit der Serviette den Mundwinkel ab, „diese Idee entspringt dem Augenblick. In zwei, drei Jahren wirst Du heiraten, und bis dahin hast Du ein schönes Leben hier.“ Marie schüttelte den Kopf und richtete sich noch ein wenig höher aus. „Nein, Vater, ich habe es gründlich überdacht. Für eine Laune des Augenblicks wäre ich nicht die Gefahr eingegangen, Euch allen einen Schrecken einzujagen oder Euch zu enttäuschen.“ Sie warf ihrer Mutter einen liebevollen Blick zu. „Es tut mir Leid, Maman, aber ich wünsche mir sehr, meinen eigenen Weg zu versuchen.“

      Was sie ihren Eltern nicht ohne Weiteres sagen konnte, ohne es wie einen Angriff auf ihr Weltbild klingen zu lassen: Sie fand die Aussicht, den Alltag der nächsten Jahren mit den akzeptierten Beschäftigungen junger Damen wie Nadelarbeiten, Musizieren, Kanarienvogelfüttern und Kleiderproben zuzubringen, gelinde gesagt ermüdend. Die Höhere-Töchterschulen, die es erst seit 1840 gab, vermittelten eine zwar nur oberflächliche, aber breit angelegte Ausbildung. Da Rudolph zutiefst vom Wert humanistischer Bildung überzeugt war und, anders als viele männliche Zeitgenossen, keinen Grund sah, sie seinen Töchtern zu verweigern, ihnen sogar seine Bibliothek öffnete, hatte Marie über den Schulstoff hinaus ihre Kenntnisse in fast allen Bereichen - Mathematik, Geographie, Geschichte, Literatur und Naturwissenschaft - erweitern können. „Dem Reich der Freiheit werb ich Bürgerinnen“ hatte die große Louise Otto schon 1850 in ihrer „Frauen-Zeitung“ geschrieben. Zerknitterte Exemplare kursierten unter ihren Mitschülerinnen, und Marie hatten die Texte und das freie Gedankengut, der Aufbruch in eine neue Zeit mit neuen Regeln, wie ein Blitz getroffen. Als Lehrerin zu arbeiten, war vielleicht nur ein kleiner Schritt auf dem Weg, aber der einzige, der im Augenblick in ihrer Macht stand. Und sie beabsichtigte, ihn zu gehen. So sehr sie ihre Eltern und die kleinen Geschwister liebte; das Hauswesen kam gut ohne sie zurecht.

      Bevor sie jedoch weitersprechen konnte, kehrte in den Regierungsrat Leben zurück. „Zum Donnerwetter, Kind, lass die Fisimatenten. Noch nie war eine Dame unserer Familie – berufstätig.“ Er spie das Wort aus. Elise, obwohl selbst erschreckt vom Begehr ihrer Tochter, sprang ihr bei. Sie war nicht abgeneigt, nachzugeben, denn Marie war stets folgsam gewesen und hatte nur höchst selten für sich um etwas gebeten. Und zum Heiraten wäre schließlich immer noch Zeit. „In unseren Familien nicht, Schwiegerpapa, das stimmt. Sie haben jedoch selbst für eine Dame gearbeitet – und Fürstin Emma hat ihre Regierungsgeschäfte vorzüglich versehen“, sagte sie spitzzüngiger, als sie eigentlich vorgehabt hatte. Das Pochen der Ader verstärkte sich. „Ich muss doch sehr bitten. Die Fürstin von Waldeck und Pyrmont, die während ihrer Regentschaft den gesamten Staatsorganismus umgestaltet und erneuert hat, woran ich die Ehre hatte mitzuwirken, mit einer… einer Lehrerin zu vergleichen – das ist ridicule, lächerlich ist das!“ Der alte Herr schnaubte. „Rausgeworfenes Geld und vergeudete Zeit, inacceptable. Und dann heiratet sie, und alles war umsonst. Wenn nicht überhaupt ihre Chancen auf eine gute Partie perdu sind danach.“

      „Aber Großvater, Sie selbst haben die verbesserte Bildung für Mädchen begrüßt“, schaltete sich nun wieder Marie ein. „Und die Mitglieder des Rates, die sich gegen die Töchterschulen aussprachen, ‚rückschrittliche Esel auf Abwegen‘ genannt.“ Sie zögerte und wandte sich an ihren Vater. „Du hast mir eine gute Ausbildung ermöglicht, wofür ich sehr dankbar bin. Aber ist es nicht sogar meine Aufgabe, daran mitzuwirken, diese Möglichkeiten auch anderen zu eröffnen? Bitte lasst es mich wenigstens probieren.“ Rudolph seufzte leicht. „Contenance und Courage, ja, die hast Du wirklich, Kind. Ich werde darüber nachdenken. Und nun lasst uns in Gottes Namen zu anderen Themen übergehen...“

      Vier Wochen später verabschiedete sich Marie mit einer innigen Umarmung von ihrer Mutter und reiste nach Marburg, um ihre Ausbildung zur Lehrerin anzutreten. Die kleine Julie aber, zutiefst beeindruckt von der Szene am Mittagstisch, murmelte beim Einschlafen des Abends noch oft vor sich hin „Contenance und Courage, Contenance und Courage...“

      Kapitel 1- Julie

      Wildungen / Cassel 1878

      Julie hatte die sieben Jahre, die seit Maries Auszug vergangen waren, weidlich genutzt. Wie die große Schwester war sie von beachtlicher Wissbegierde erfüllt, hatte gar dem älteren Bruder Carl bei seinen altsprachlichen Schulaufgaben über die Schulter geschaut und ihre Kenntnisse – „Lehrerin spielend“ - an die jüngeren Geschwister weitergegeben, insbesondere an Ernst und Caroline. Julie war die Anführerin dieser kleinen Troika der „mittleren“ Geschwister, die altersmäßig recht nah beieinander waren: Ernst zwei Jahre, Caroline fünf Jahre jünger als sie.

      Die Mädchen besuchten, wie Marie, eine private Höhere Töchterschule; Ernst das Fürstlich-Waldecksche Gymnasium in Korbach. Wenn das Trio zuhause vereint war, saßen sie gern im heimatlichen „Musikzimmer“ – Caroline meist am Klavier, Julie und Ernst vertieft in Lektüre.

      Ernst, der später über den römischen Satiriker Lucilius promovieren und nach der Habilitation als ordentlicher Professor in Hamburg lehren würde, bevorzugte lange Zeit die Werke Homers. Julie assistierte bei den Übersetzungsversuchen, vor allem aber bei deren anschließenden „Aufführungen“; mit angemessenem theatralischen Pathos und mal mehr, mal weniger geglückten Hexametern. Außerdem verschaffte die Anwesenheit des Bruders Zugang zu gänzlich undamenhafter französischer Lektüre, darunter Alexandre Dumas‘ „Comte de Monte-Christo“ und „Les trois mousquétaires“.

      An den Wochenenden veranstaltete die Familie Landpartien und Picknicks; oft kamen Freunde der Eltern mit Familien zu Besuch; man traf sich zu geselligen Abenden, in der Saison auch zu Tanzveranstaltungen – und immer wieder zu herbeigesehnten Theaterbesuchen. Die Fahrten ins Hoftheater in Cassel waren ein Fest, das in langer Vorbereitung zelebriert wurde.

      Carl, vier Jahre älter als Julie, hatte 1872 das Abitur am Fürstlich-Waldeckschen Gymnasium absolviert und eine kaufmännische Ausbildung gewählt. Besonders förderte ihn ein Freund seines Großvaters, der als Regierungsrat am Hof von Arolsen auch Bekanntschaften zum Kurfürstlichen Casselaner Hof pflegte. Den alten Herrn verband persönliche Sympathie mit dem Hofrat Fedor Ludwig Cramer. Dieser hatte gemeinsam mit seinen jung verstorbenen beiden Brüdern 1845 die „Farben- und Drogengroßhandlung Gebrüder Cramer“ am Steinweg 4 in Cassel gegründet. Das Unternehmen florierte und avancierte rasch zum kurhessischen Hoflieferanten. Der Hofrat nahm Carl unter seine Fittiche und begleitete seine Lehrzeit. Emil Cramer, seit 1873, seiner Volljährigkeit mit 24 Jahren, an der Führung der Geschäfte beteiligt, wurde bald Carls engster Freund.

      So entstand eine herzliche Verbindung zwischen den Familien. Reiste die Familie Kleinschmit zu Theateraufführungen nach Cassel, war sie gern gesehener Gast im großen Haus am Steinweg, in dem sich über den Geschäftsräumen im Erdgeschoss auf zwei Etagen die weitläufigen Wohnräume der Familie befanden. Emils Mutter Mathilde, als Tochter des kurhessischen Forstverwalters in einer großen Familie im ländlichen Umfeld von Cassel aufgewachsen, war zutiefst unglücklich gewesen, nach Emil keine weiteren Kinder mehr bekommen zu können. Eine Reihe von Fehlgeburten hatten immer wieder auch ihr Leben in Gefahr gebracht, bis sie sich damit abfinden musste: Emil würde das einzige Kind bleiben. Ganz besonders eine Tochter hätte sie sich gewünscht, und so war die rundliche, gutmütige, aber ein wenig eigene Matrone nur allzu glücklich, Julie und Caroline verwöhnen zu können und in Elise eine handfeste, verlässliche Freundin zu finden.

      „Wie schön, dass Sie da sind, Sie lieben Deare“, begrüßte sie die Besucher stets strahlend, ohne Ernsts Feixen und das leise Glucksen der Mädchen angesichts der merkwürdigen Pluralbildung des englischen Wortes je zu bemerken. „War Ihre Reise komfortabel? Man weiß ja nie in diesen Zeiten …“ Welche Risiken „diese Zeiten“ bargen, in denen kein Krieg mehr herrschte, noch gemeinhin Räuberhorden am Straßenrand lauerten, blieb offen. „Überaus