Dorothee Lehmann-Kopp

Ein eigenes Leben wagen


Скачать книгу

Mal sein Gastgeber und Ronny verbündet zu haben schienen. Nicht dass die beiden je ein Wort wechselten, aber sie verfolgten unzweideutig die gleichen Ziele. Also hielt er sich fern von den jungen Damen und noch ferner von ihren Müttern, die auf der Suche, ihre Tochter unter eine möglichst gutsituierte Haube zu bringen, die Blicke schweifen ließen.

      Ronny war selbstredend nicht mitgekommen; seine Gedanken gingen jedoch in eine Richtung, die der von Caroline gar nicht so fern war. Er fand es überfällig, dass sein Freund, Herr und Schützling endlich sesshaft wurde. Aus drei Gründen: Zum einen täte es Willem gut, eine Familie zu gründen und das unstete Leben aufzugeben. Zum zweiten schuldete er es seinen Eltern: Die wurden nicht jünger, und für sie wäre es richtig, wenn der Sohn sich nicht mehr auf den Meeren herumtrieb. Und die Eltern hatten höchste Priorität, sie kamen sozusagen kurz hinter den Geistern. Und zum dritten wurde er selber alt und hatte wenig Lust, seine letzten Lebensjahre auf See zu verbringen. Also musste er ihm eine Frau suchen, ganz einfach. Oder auch nicht, denn die bisherigen Versuche waren grandios gescheitert, und so recht wollten ihm selbst die fraglichen Kandidatinnen auch nicht behagen. Das hübsche Mädchen mit der eleganten jungen Dame an ihrer Seite, das sie mit so großen Augen gemustert hatte, war ihm jedoch aufgefallen – sie strahlte eine so natürliche, unaffektierte Frische aus, dass sich eine Nachforschung vielleicht lohnte.

      Carolines Versuche in der Richtung konnten sich zunächst nur auf vorsichtige Nachfragen beim Personal ihres Großvaters beschränken und waren nicht von Erfolg gekrönt. Ronny hatte bessere Optionen. Er fand den Wohnort seiner Zielpersonen bereits am nächsten Mittag heraus, als er ihnen unauffällig folgte, hatte dann ein Paket mit kolonialen Spezereien bei der Köchin abzugeben – ach, das war nicht die richtige Adresse? Wie bedauerlich – und erlitt vor der Tür des Dienstboteneingangs einen plötzlichen, heftigen Schwächeanfall. Natürlich wurde er mit christlicher Nächstenliebe versorgt, auch die beiden jungen Damen eilten herbei. Die Jüngere nahm wiederum Farbe an, bekam runde Augen, und kümmerte sich so fürsorglich, dass er sich veranlasst sah, sich nicht allzu schnell zu erholen. Stattdessen bat er darum, man möge einen Boten schicken und seinen Herrn informieren. Der daraufhin zu seiner Hilfe eilte (allerdings ernstlich besorgt, der Arme). Mittlerweile waren auch die beiden Brüder der jungen Damen hinzugekommen - einen kollabierten Malaien hatte man schließlich nicht alle Tage in der Küche - und so fand eine formvollendete Vorstellung statt, in deren Folge sein Herr für den nächsten Tag zum Tee geladen wurde, bevor man abends erneut einen Ball aufsuchen würde. Na bitte.

      Willem fiel in der Aufregung erst später auf, dass es keinerlei Grund gegeben hatte, ein Päckchen an der besagten Haustür vorbei zu bringen. Aber da war die Verabredung schon getroffen, und die Dinge nahmen ihren Lauf. Mit den Brüdern und dem künftigen Schwager der jungen Damen verstand er sich auf Anhieb. Und diese selbst waren so charmant und bezaubernd, dass er noch nicht einmal erwog, sich dem abendlichen Tanz entziehen. Julie war besorgt, aber Caroline schwebte auf Wolken. Elise und Rudolph schienen von dem ostindisch-niederländischen Geschäftsmann überaus angetan, nahmen auch durchaus gewisse schmachtende Blicke Carolines wahr, dachten sich aber nichts dabei und wurden erst argwöhnisch, als Caroline am Folgeabend gegen jedes comme il faut nur je einen Tanz mit ihren Brüdern und Emil absolvierte und ansonsten ihre Tanzkarte für ihren neuen Bekannten reservierte. Sie hätten ohnehin nichts ändern können; Willem und Caroline hatten sich heftig verliebt, und so kam es, wie es kommen musste: Als das Ende des Aufenthalts in Arolsen nahte, sprach Willem bei Rudolph vor und bat, um die Hand seiner jüngsten Tochter anhalten oder zumindest werben zu dürfen. Rudolph war ehrlich betroffen. Schwärmerei hin oder her – dass sich Caroline mit einem Verehrer ins Einvernehmen setzte, der sie ans andere Ende der Welt bringen würde, hätte er in düstersten Visionen nicht erwartet. Noch dazu in so rasantem Tempo, und nachdem Marie schon den vorgezeichneten Weg verlassen hatte, um als Blaustrumpf und Lehrerin in Marburg zu leben. Gleichzeitig liebte er seine Töchter sehr und wollte sich nicht einer Eheschließung aus Neigung entgegenstellen. Und der Kandidat hatte durchaus auch etwas zu bieten: Sein Wohlstand war beträchtlich, und er plante, auf Java eine Zuckerrohrplantage zu erwerben, um sich dort niederzulassen. Überzeugend waren auch die Bürgen, die er nannte, so dass Rudolph die Richtigkeit seiner Angaben prüfen konnte. Der erhebliche Altersunterschied von fast 16 Jahren war zwar hinnehmbar – er und Elise waren elf Jahre auseinander - aber sein Küken! Es war noch jung, noch keine 16 Jahre alt. Er bat um Bedenkzeit und besprach sich mit Elise.

      Schweren Herzens vereinbarten sie am nächsten Tag: Vor dem 18. Geburtstag Carolines käme eine Heirat nicht in Frage. Und eine Verlobung nach wenigen festlichen Tagen ebenfalls nicht. Um die Zuverlässigkeit der Gefühle und Wünsche zu prüfen, möge der Kandidat in einem Jahr vorbei kommen; einem Jahr, das Caroline großenteils bei der Schwester in Cassel verbringen werde, wo sie ein reges gesellschaftliches Leben führen und auch andere junge Männer kennen lernen würde. Sollte die Zuneigung dann noch Bestand haben – dann würde man weiter sehen.

      Sie hatte Bestand. Nach einem Jahr und nach einem weiteren Jahr der Verlobungszeit. Willem hatte in der Zeit seine Plantage und ein weitläufiges Wohnhaus eingerichtet, und so fand am 27. März 1881, fast genau zwei Jahre nach der Trauung von Julie, die Hochzeit statt. Trauzeugen waren Emil und Carl. Der Abschied war schmerzhaft, war doch klar, dass zumindest die Eltern ihre Tochter nicht mehr wiedersehen würden. Die mehrwöchige Reise wäre für sie nicht zu bewältigen, und es war unklar, wann und ob die Frischvermählten – erst recht, sobald sich der zu erhoffende Nachwuchs ankündigte - je wieder europäisches Festland betreten würden. Julie und Caroline versprachen sich zwar, ihr inniges Verhältnis nie abbrechen zu lassen, ständig zu schreiben und einander zu besuchen, doch einfach würde das nicht werden, das wussten beide.

      Kapitel 3 - Marie

      Marburg 1882

      „Über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen“, schrieb Caroline Schlegel 1799 an ihre Tochter. „Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau / Und herrschet weise / im häuslichen Kreise / Und regt ohn Ende / die fleißigen Hände etc. etc…“ Was für ein Frauenbild. Ihr Gatte August Wilhelm Schlegel, der Literaturhistoriker und Philologe, amüsierte sich ebenfalls köstlich: „Ehret die Frauen / Sie stricken die Strümpfe / wohlig und warm zu durchwaten die Sümpfe“, dichtete er weiter. Woran die Wohnkommune der Schlegels, die ganz in der Nähe der Familie Schiller in Jena lebte, solchen Spaß hatte, konnte Marie gerade nicht sehr lustig finden.

      Sie hatte ihre Entscheidung, den Lehrerinnenberuf zu ergreifen, nie bereut und liebte ihre Arbeit. Ihrem Vater hatte sie „à la main“ versprochen, sich nie durch die Mitwirkung in Frauenvereinen in Konflikt mit dem Gesetz zu bringen. Noch immer galt das Verbot der politischen Versammlung oder Vereinsgründung für Frauen, das 1850 verabschiedet worden war und ihnen letztlich auch jede agitative Äußerung verbot: Louise Otto hatte die Redaktion ihrer Frauenzeitung an Strohmänner abgeben und das Blatt schließlich ganz einstellen müssen. Obwohl die schriftstellerische Betätigung für Damen des Bürgertums der einzige bis dahin unangefochtene Beruf gewesen war. Mit ungeheurer Produktivität verfasste sie weiterhin Romane. Um sich jedoch in breiterer Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen und Türen für den Kampf um Emanzipation und Gleichberechtigung zu öffnen, ohne unter das politische Verdikt zu fallen, hatte sie mit zwei Mitstreiterinnen eine Hintertür gewählt. Mit Auguste Schmidt, der Leiterin einer renommierten höheren Töchterschule in Leipzig, und Henriette Goldschmidt, die sich nachhaltig für die Reformpädagogik Fröbels einsetzte, gründete Louise Otto im Oktober 1865 den Allgemeinen Deutschen Frauenverein (ADF) , der sich für die Bildung von Mädchen einsetzte. Ein kluger Schachzug, war doch die Kindererziehung selbst nach klassischem Rollenbild Domäne der Frau und damit nicht angreifbar. Gleichzeitig konnten sie so auch Damen des gehobenen Bürgertums erreichen, die mit konservativem Selbstverständnis explizit kämpferische Ansätze abgelehnt hätten. Mädchenbildung jedoch ging auch sie an; das klang nicht per se nach Emanzipation, nach Protest gegen die völlige Unterwerfung unter männliche Superiorität (undenkbar!). Das politische Anliegen verbrämten die drei nur durch Vagheit: „Der Allgemeine Deutsche Frauenverein hat die Aufgabe, für die erhöhte Bildung des weiblichen Geschlechts und die Befreiung der weiblichen Arbeit von allen ihrer Entfaltung entgegenstehenden Hindernissen mit vereinten Kräften