Dorothee Lehmann-Kopp

Ein eigenes Leben wagen


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in die Gesellschaft betreiben können. Gegen die Erinnerung an Monte-Christo kam allerdings keiner der jungen Männer an, zumal die Eltern es nicht über sich gebracht hatten, auch den Briefverkehr zu verbieten. Die Post brauchte zwar elend lange Wochen, aber sie kam an und diente nicht dazu, die Verbundenheit zu mindern.

      Willem und Ronny kehrten Anfang Januar 1880 zurück, pünktlich zu Fedors Taufe und fast exakt ein Jahr nach dem Kennenlernen. Die gegenseitige Sympathie, beziehungsweise auf Seiten des Paares: die unbändige Vernarrtheit, hatten sich bestätigt und verstärkt. So geriet die Feier von Fedors Taufe zum Verlobungsfest seiner jungen Tante. Als Willem im März 1881 zu seiner und Carolines Hochzeit eintraf, war Julie mit ihrem zweiten Kind schwanger; am 7. August sollte Mathilde Elise zur Welt kommen. Benannt nach ihren beiden Großmüttern; dem dicken S zuliebe war jedoch „Mathilde“ ihr Rufname. Erstmal.

      Am Abend der Ankunft überreichte Ronny Julie in einer feierlichen Zeremonie einen weiteren Familienzuwachs: Das jüngste Söhnchen der Tochter der buntgescheckten Glückskatze, die Willem einst gerettet hatte. Gut, dass es ein kleiner Kater war, so stand dem Haushalt zumindest keine exponentielle Vermehrung tierischer Bewohner bevor. Obwohl er trotzdem dafür sorgte, eine Cramersche Katzen-Dynastie zu gründen, die erst im Zweiten Weltkrieg ein Ende finden sollte. Der kleine Kerl mit seinem riesigen Öhrchen – eins rot, eins schwarz – war allerdings so niedlich, dass Julie ihn auf keinen Fall hergegeben hätte. Das dicke S versprach sich von ihm Linderung ihres Rheumas, wenn er denn bereit wäre, seinen Schlaf zum richtigen Zeitpunkt an den immer mal schmerzenden Körperstellen zu halten. Über das Wo und Wie waren der kleine Kater und die in die Jahre kommende Matrone zwar nicht immer einig; das tat der gegenseitigen Zuneigung jedoch keinen Abbruch. Ein Ersatz für die abreisende Schwester konnte das Tierchen nicht sein. Aber Julie und Caroline hatten sich lange auf die Trennung vorbereitet, und so verabschiedeten sie sich – tränenreich, aber in Frieden mit einer Situation, die beiden das Leben versprach, das sie gewählt und gewünscht hatten.

      Als Elise und Rudolph nach Marburg zogen, war Julie froh. Natürlich hätte sie die Eltern auch zu sich eingeladen, aber mit dem Großhandel, dem dicken S, der wachsenden Kinderschar und den vielen Gästen wäre es trotz der großzügigen Räume schwierig gewesen, ihren Eltern die verdiente Ruhe und Privatheit zu schaffen. Vor allem Rudolph benötigte einen eingespielten, stillen Rhythmus, der in dem ständig brummenden Hauswesen kaum zu bewerkstelligen gewesen wäre. Er erlebte noch die Geburt zweier weiterer Enkel: Agnes kam am 20. Dezember 1883 zur Welt, Max im November 1884. Beide Namen eine Hommage an die geschwisterliche Troika: Agnes war der Zweitname von Caroline, Max der erste Vorname von Ernst.

      Trotz der vielen Schwangerschaften: Julie genoss das kulturelle Leben Cassels in vollen Zügen. Seit je hatte Cassel zu den bedeutendsten deutschen Theaterstädten gehört: Das 1605 eingeweihte Ottoneum, in dem nun das Naturkundemuseum untergebracht war, war der erste feste Theaterbau Deutschland gewesen. Landgraf Friedrich II. hatte von 1765 bis 1769 an der 1600 Meter langen und 19 Meter breiten Königsstraße ein Palais errichten lassen, das sich zum Opernplatz öffnete. Hinter Repräsentationsräumen befanden sich Zuschauerraum und Bühnenhaus. Sowohl der Bau des Architekten Simon Louis du Ry, als auch die Sänger, Schauspieler, Musiker, die Kapellmeister und Direktoren sicherten für die nächsten zwei Jahrhunderte den Ruf eines der besten Theater Europas. 1866 ging mit dem Ende Kurhessens auch das Theater an die preußische Krone über. Von 1883 bis 1885 hatte Gustav Mahler die Leitung des Kurfürstlichen Hoftheaters (der Name galt immer noch). Seine ersten Symphonien wurden hier aufgeführt, in den Folgejahren umfasste das Programm vor allem Opern von Wagner, Mozart, Beethoven und Weber. Emil und Julie genossen die Abende im Theater – die Opern und Schauspiele, aber auch die geselligen Begegnungen mit Bekannten und Freunden in den Pausen und, nach den Aufführungen, das Zusammensein mit den Künstlern in ihren Garderoben. Auch zu ihnen entwickelten sich herzliche Freundschaften. Ganz besondere Ereignisse waren die Theater- und Kostümbälle, die oft bis in die frühen Morgenstunden dauerten.

      Und sie führten ein überaus gastfreundliches Haus: Regelmäßig kamen Musiker und Sänger zu Hauskonzerten in den Steinweg, es gesellten sich Schriftsteller, Journalisten, Pädagogen und Philologen hinzu – ebenso aber die Geschäftspartner Emils, die Händler, Ärzte und Pharmazeuten. Dazwischen mischten sich jedoch auch Regierungsbeamte und Offiziere der nahe gelegenen Militärakademie. So war regelmäßig eine bunte Gesellschaft versammelt – und sobald sie ein gewisses Alter erreicht hatten, bezog Julie ihre Kinder darin ein. Noch zwei Töchter wurden geboren, wiederum kurz nacheinander: Claire im Mai 1886 und Margarete im August 1887.

      Kapitel 5 - Caroline

      Java 1887

      Liebste Julie,

      bis mein Brief Dich erreicht, wird auch die kleine Margarete schon einige Wochen alt sein, vielleicht habt Ihr bereits Taufe gefeiert. Ich wünsche ihr ein wundervolles, schönes, aufregendes und glückliches Leben wie allen Deinen Kindern und schicke meine allerliebsten Grüße. Wie gern würde ich Euch einmal wieder in den Arm nehmen und die kleinen Ungeheuer kennen lernen! Sechs Kinder hast Du nun - bei mir sind es drei bisher, zum Glück alle gesund und munter (auch Willem und ich), und ein weiteres hat sich soeben angekündigt. Aber so lange wir so „produktiv“ sind, ist an eine Reise nicht zu denken…

      Ronny hat, als Deine Nachricht von der Geburt eintraf, umgehend die gleiche magische Zeremonie (worin auch immer sie besteht, er beharrt auf Geheimhaltung, es sei ein Zauber seiner Mutter) veranstaltet wie bei meinen. Hoffen wir, dass es was nützt, denn dann sind alle unsere Kinder mit höchsten magischen Sicherheitsvorkehrungen vor Unglück, Krankheit und jedweder Unbill geschützt. Obwohl das, solange er lebt, eigentlich überflüssig ist: Als unser Majordomus gibt er weiterhin eine höchst ehrwürdige Gestalt ab (er besteht sogar darauf, sich Hieronymus zu nennen) – aber als Kindermädchen ist er unübertroffen. Die tatsächlichen tun mir manchmal fast Leid; nichts können sie ihm recht machen, nie gut genug auf die Kleinen aufpassen, und wenn Du ihn sehen würdest, wie er mit ihnen spielt, wenn er sich unbeobachtet wähnt, würdest Du Dich schieflachen.

      Willem (hör auf, ihn Edmond-Quichotte zu nennen!) hat mir neben unserem Salon ein wunderbares Musikzimmer eingerichtet, mit einem Flügel von Steinway und einer fantastischen Aussicht in den Garten. Vor einigen Tagen habe ich dort ein kleines Abenteuer erlebt. Du kannst das Folgende also Marie vorlesen, aber besser nicht Maman; ich erwähne es im Brief an die beiden nicht, damit sie sich nicht ängstigt. Ich saß stolz und glücklich an meinem Flügel, die Türen zu unserem schönen Garten weit geöffnet, und spielte gerade eine Klavieradaption von Mozarts Klarinettenkonzert, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Es war eine Kobra, die hier relativ weit verbreitet und giftig sind, aber in der Nähe des Hauses hatte ich noch nie eine gesehen. Sie war ziemlich schnell unterwegs und hielt geradewegs auf meinen Flügel zu. Was tun? Weglaufen darf man nicht, das hatte Ronny mir eingeschärft, und ob ich eine Schlange erschlagen könnte, wage ich zu bezweifeln. Ich hätte auch nichts Passendes zur Hand gehabt. Aber ich hatte auf den Basaren Schlangenbeschwörer gesehen und dachte mir, was die können, kann ich schon lange. Und wenn die Unbeohrten gern Musik hören (wie unlogisch!), sind sie hier zwar unerwünscht, aber gerade richtig. Also spielte ich, was das Zeug hielt. Der Mozart war zu Ende, ich ging zu Schubert über. Der gefiel ihr (oder ihm?) leider etwas zu gut, sie begann sich nämlich an meinem Kleid hochzuschlängeln. Nächstes Schubert-Stück, sie hatte die Schultern erreicht, glitt darüber (iiiih) und wechselte dann – Gott und allen Geistern sei Dank! – den Kurs nach unten. Danach blieb sie zu meinen Füßen liegen. Oh nein, bloß nicht. Ich nahm Beethoven in Angriff, und den mochte sie offenbar nicht, jedenfalls schlängelte sie sich wieder raus. Als sie weg war, merkte ich doch, dass meine Knie etwas weich wurden, und ich hoffe, dass uns Willems Wohlstand immer erhalten bleiben möge; ich hätte nur sehr wenig Lust, mich auf den Basaren als Schlangenbeschwörer durchschlagen zu müssen. Seitdem halte ich während des Spiels die Türen geschlossen und verstehe nun auch Ronny, der vor Kurzem eines der Hausmädchen fürchterlich tadelte, weil es den Kinderwagen (ohne Baby darin) auf die Terrasse geschoben und dort stehen gelassen hatte. Nicht auszudenken, wenn sich darin so ein Schlangentier versteckt und man das Kind darauf legt.

      Aber Du brauchst deswegen nicht denken, dass wir hier im unzivilisierten Dschungel leben.