Dorothee Lehmann-Kopp

Ein eigenes Leben wagen


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zwei Geheimen Räten als Großväter hatten die Kleinschmit-Töchter seit je eine gewisse Verbindung zum Hof gehabt, waren dort auch vorgestellt worden. Julie hatte zu Emma eine besondere Neigung: Beide waren fast gleich alt – Emma am 2. August, Julie am 3. Juni 1858 geboren – beide hatten ein einnehmendes, kluges Wesen, und die unprätentiöse Art, mit der Emma die Enkelinnen der Räte ihrer Großmutter und ihres Vaters begrüßt hatte, beeindruckte Julie nachhaltig. Als die Prinzessin knapp zehn Jahre zuvor tief um ihre jüngste, an Lungentuberkulose gestorbene Schwester Sophie trauerte, war Julie kaum zu trösten gewesen.

      Und nun also, ebenfalls nur wenige Wochen versetzt, Verlobung und Hochzeit! Elises Eltern lebten nicht mehr, Theodor Kleinschmit jedoch bewohnte noch das schöne Stadthaus an der Großen Allee in Arolsen, in unmittelbarer Nähe zum Barock-Schloss gelegen. So quartierte sich die Familie Kleinschmit kurz nach dem Neujahrsfest dort ein, um die die Hochzeitsfeier flankierenden Bälle auszukosten. Caroline, die am 22. Januar ihren 16. Geburtstag feiern würde, sollte daran teilnehmen dürfen, begleitet von Ernst, Julie und Emil. Auch Carl reiste an, und endlich einmal gab es Zeit und Raum, das herzliche Verhältnis wieder aufleben zu lassen. Die kleinen Brüder Otto und Walther waren, begleitet von ihrer Kinderfrau, ebenfalls dabei. Nur Marie fehlte; sie hatte das Weihnachtsfest bei der Familie in Wildungen verbracht, musste jedoch am Morgen des 2. Januar an ihre Schule nach Marburg zurückkehren.

      Das kleine Städtchen Arolsen und die umgebenden Dörfer waren bis auf das letzte Kämmerlein ausgebucht; auch aus allen Teilen des niederländischen Kolonialreiches waren Gäste eingetroffen. Trotz der Januarkälte pulsierten die Straßen von buntem Leben; die exotisch aussehenden Dienstboten weckten Neugier und Abenteuerlust, allerorten herrschte Betriebsamkeit und erwartungsfrohes Gedränge. Am Morgen des 6. Januar hatten Caroline und Julie einen Spaziergang gemacht und das farbenprächtige Treiben bewundert, als ihnen ein bemerkenswertes Paar entgegenkam: Ein überaus braungebrannter, athletisch-schlanker, mit seinen dunklen Haaren fast fremdländisch aussehender, etwa 30-jähriger Mann, neben ihm ein kleiner, zierlicher Asiate unschätzbaren, aber vermutlich hohen Alters, der ihm gerade bis zur Brust reichte. Carolines Augen wurden groß, und sie blieb mit offenem Mund stehen. Julie stupste sie an, „Schnabel zu, Schwesterchen. Und starre nicht so.“ Caroline klappte den Mund zu und wurde feuerrot. Der elegante Korsar musterte sie mit amüsiertem Blick und trat galant beiseite, um sie passieren zu lassen, „mes Demoiselles....“ Julie nickte ihm kurz zu und zog ihre Schwester fort. „Hast Du den gesehen!“ Caroline blieb wieder stehen. „Kaum vermeidbar“, Julie grinste, „nun mach nicht so ein Schafsgesicht.“ „Der sah aus wie – wie Edmond Dantès“, Caroline blickte sich vorsichtig um, aber die hohe Gestalt war schon aus ihrem Blickfeld verschwunden. „Woher willst Du denn das wissen?“, neckte Julie sie. „Die zwei hätten auch Don Quichotte und Sancho Pansa sein können.“ Caroline streckte ihr die Zunge heraus, „Sancho Pansa war dick und Don Quichotte….“ Sie wurden unterbrochen, weil Ernst ihnen entgegen kam. „Wo bleibt Ihr denn? Mutter hat mich geschickt, Euch zu holen. Das dicke S ist gerade eingetroffen!“ – „Das dicke S?“ -„Deine Schwiegermama in spe, Schwesterherz“, Ernst zog eine übertrieben würdevolle Miene und machte einen Diener. Caroline kicherte. „Hätte von mir kommen müssen. Als Revanche für das grüne Dear.“ Julie versuchte einen mütterlich-strafenden Blick. „Caro hat soeben den Grafen von Monte-Christo gesichtet“, erklärte sie ihrem Bruder. „Vor der Kerkerhaft, versteht sich. Und darüber jegliches Benehmen verloren. Nimm sie mir ab, und ich eile in Schwiegermutters Arme.“

      Am Mittag des 7. Januar verkündeten 101 Kanonenschüsse vor dem Schloss die Hochzeit, eine große Menschenmenge jubelte dem Brautpaar zu; Arolsen verwandelte sich in einen Festplatz. Für die abendlichen Festlichkeiten hatten Julie und Caroline sich neue Ballkleider schneidern lassen dürfen – Julies aus einem wunderbar warm leuchtenden blauen Seidenstoff, der perfekt zu ihren dunkleren Haaren passte, Caroline mit ihren rotblonden Locken hatte ein zartes Lindgrün (was sonst) gewählt. Am frühen Abend während des Ankleidens erreichte die Aufregung ihren vorläufigen Höhepunkt; für Caroline war es der erste wirklich große Ball. Und es wurde ein wundervoller Abend, für die ganze Familie. Ernst geleitete sie zu ihrem ersten Tanz, Julie und Emil nahmen neben ihnen Aufstellung, und schon vor den nächsten Tänzen mit ihren Brüdern und dem Verlobten ihrer Schwester war Carolines Tanzkarte ausgefüllt. Julie fiel jedoch auf, wie ihre Blicke schweiften. Es bestand wenig Zweifel daran, wonach, oder besser, nach wem sie suchte. Sie sah sich ihrerseits um: Edmond-Quichotte schien nicht im Saal zu sein; gut so. Besser, wenn ihre kleine Schwester sich nicht an ihrem ersten Ballabend in jemanden verguckte – und schon gar nicht in jemanden, der zwar großartig, aber doch ein wenig anders wirkte als die Herren aus ihren Kreisen.

      Sie hätte es besser wissen müssen. Carolines Phantasie war angefacht. Edmond Dantès, der Seefahrer. Mit bitterem Unrecht eingekerkert und nach 15 Jahren als Comte de Monte-Cristo wieder auferstanden. Ein Abenteurer, ein Gentleman, geschmeidig, verwegen, braungebrannt (zugegeben, letzteres nur während seiner Zeiten zur See, nicht als Graf) – das Gegenbild der blassen Bürgersöhnchen und beleibten Kaufleute. Nichts gegen Emil, der sah ganz niedlich aus, und den lieben Ernst natürlich. Es gab auch noch den ein oder anderen passablen jungen Mann. Aber keine Chance gegen eine solche Gestalt! Nur war ebendiese leider nirgendwo in Sicht. Nun, das Tanzen machte trotzdem Spaß. Aber am nächsten Tage würde sie versuchen, Erkundigungen einzuholen.

      Sie konnte nicht wissen, wie nah sie mit ihren Vermutungen dem Objekt ihrer Träume kam: Kerkerhaft hatte er zwar nicht erlebt, auch nicht den Verlust seiner großen Liebe an einen Intriganten oder anderes großes Unglück, eher im Gegenteil. Aber Seefahrer stimmte. Allerdings nicht mehr als einfacher Matrose. Willem Albert Meyer, geboren am 6. September 1847 in Djacarta, war der Sohn eines mittlerweile im Ruhestand befindlichen Hauptlehrers. Er liebte seine Heimat in den ostindisch-niederländischen Kolonien, aber nach Abschluss seiner eigenen Schulzeit war ihm klar: Lehrer würde er nicht werden. Auch nicht Beamter. Das Abenteuer lockte. So war er mit 17 Jahren zur See gegangen und hatte es mit viel Verstand, Tatkraft und einer gehörigen Portion Glück schon mit 24 Jahren zum Partikulier gebracht: Anders als ein normaler Reeder blieb er damit auch Kapitän seines eigenen Schiffes. Das war 1871 gewesen. Mit der Eröffnung des Suez-Kanals 1869 war das Exportvolumen explodiert. Reeder und Partikuliers konnten in wenigen Jahren ein Vermögen anhäufen. Mit 31 Jahren war er nun ein wohlhabender Mann. Nach Arolsen hatte es ihn eher zufällig verschlagen.

      Nachdem sein Schiff in Amsterdam eingelaufen war, war er der Einladung eines seiner Handelspartner gefolgt und von diesem überaus herzlich aufgenommen worden. Da er ohnehin einen längeren Aufenthalt eingeplant hatte und erst sechs Wochen später neue Fracht aufnehmen und die Rückkehr antreten würde, nahm er den Vorschlag seines Gastgebers gerne an, ihn zur königlichen Hochzeit zu begleiten. So ließ er sein Schiff in der Obhut der Mannschaft; mit ihm reiste sein persönlicher Vertrauter, Mentor, Freund und Diener Hieronymus. Der pompöse Name stand in kuriosem Missverhältnis zur Erscheinung des zierlichen alten Malaien und passte ebenso wenig zu seiner Körpergröße wie die fröhliche Kurzform „Ronny“ zu seiner stets ernsten Mimik. Er hatte ihn seiner Mutter zu verdanken, die als Haushälterin eines gelehrten geistlichen Niederländers gearbeitet hatte. Obwohl sie fest an alle möglichen Geister und Gottheiten glaubte und gegen jedweden Missionierungsversuch aus Überzeugung immun gewesen wäre, faszinierte sie ein Dürer-Stich im Studierzimmer ihres Arbeitgebers derart, dass sie den titelgebenden Namen kurzerhand ihrem winzigen Neugeborenen verpasste. Sein Vater, der ebenfalls im Haushalt angestellt war, hatte dabei kein Stimmrecht erhalten.

      Willem verdankte Ronny ungemein viel: Sie hatten sich auf dem ersten Schiff, auf dem er angeheuert hatte, kennen gelernt, und nachdem Willem Ronnys buntgescheckte Katze davor bewahrt hatte, von abergläubischen Matrosen ersäuft zu werden (es war noch ein Schiffskater an Bord und Frauen brachten auf selbigem Unglück, auch seidenfellige auf vier Pfoten), war er ihm unverbrüchlich ergeben. Er hatte es Ronnys wortkarger, aber sicherer Lenkung zu verdanken, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Schritte unternommen und jugendliche Dummheiten sowie Fehler aus Unerfahrenheit unterlassen zu haben.

      Im Ballsaal konnte Caroline ihn aus dem einfachen Grund nicht entdecken, weil Willem diesen nicht betrat. Er war von seinem Gastgeber mit verschiedenen Herren der obersten niederländischen Gesellschaftsschicht bekannt gemacht worden, und es wäre grob fahrlässig gewesen,