Marieke Hinterding

Der Verachtete


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vor der Tür, bis endlich von drinnen geöffnet wurde. Nach kurzer Schilderung seiner Symptome wurde Udo mit den Worten: „Sie sind ohne Termin. Das kann ein Weilchen dauern“, in das Wartezimmer verwiesen.

      Geduldig setzte sich Udo, er versuchte sich in die ausliegenden Zeitschriften zu vertiefen, aber immer wieder schweiften seine Gedanken ab und er fragte sich, wie es nun weitergehen sollte mit ihm. Für Udo war die Sache gelaufen: Erst versagt beim Löten und Produktionsausfall verursacht und dann zu krank für die einfachen Sachen! Nein, das machte keine Firma mit! Und schon gar nicht am ersten Tag!

      Und trotzdem musste er jetzt hier sitzen und so tun, als glaubte er ganz fest an eine Weiterbeschäftigung.

      Udo hüstelte nur schwach und das war ihm im Moment gar nicht recht. Ein starker Husten würde das Personal und den Arzt beeindrucken, er aber hatte seiner Ansicht nach ausgerechnet in diesen Momenten beim Arzt nichts vorzuweisen, was ein Attest rechtfertigen könnte. Das Wartezimmer hatte sich inzwischen bis auf den letzten Platz gefüllt und alle waren scheinbar mit Termin da, denn Udo saß geschlagene zwei Stunden, ehe er in das Sprechzimmer gerufen wurde.

      „Akute Bronchitis“, lautete die knappe Diagnose des Arztes, als der ihn abgehört hatte. Udo fielen gleich mehrere Steine vom Herzen. Er hatte anstandslos ein Attest bekommen und war eine ganze Woche krankgeschrieben. Und er musste seine Lunge nicht röntgen lassen.

      „Was für ein Glück“, dachte er, als er die Praxis verlassen hatte: „Wenn ich nämlich Krebs habe, möchte ich das lieber nicht wissen!“ Aber, wer wusste, vielleicht war seine Lunge ja noch gar nicht zerfressen von einem Tumor. Sicher hätte der Doktor gemerkt, wenn er ernsthaft erkrankt wäre. Dass die Röntgenaufnahme unterblieben war, konnte man doch nur als ein gutes Zeichen werten. Udo drehte sich jetzt eine Zigarette und rauchte sie genüsslich. „Wenn ich dieses Päckchen Tabak auf geraucht habe, werde ich endgültig aufhören. Man soll das Schicksal nicht herausfordern...!“ -

      Jetzt galt es erst mal, Zeitarbeitsfirma T. anzurufen und sich telefonisch krank zu melden. „Das Attest werde ich morgen abschicken“, dachte er und schwang sich auf sein Fahrrad.

      Um ungefähr 17 Uhr 30

      betrat Udo S. seine Wohnung an diesem Abend wieder. Es war bereits dunkel und unangenehm kalt und Udo knipste in Flur und Wohnzimmer das Licht an. Heizen wollte er aber noch nicht .Er hatte sich ganz fest vorgenommen, die Heizung nur für drei Stunden am Tag aufzudrehen und das auch nur, wenn es unumgänglich war und so beschloss er angesichts der recht frühen Abendstunden, erst um 20 Uhr zu heizen, sonst war die Wärme verflogen ehe er es sich vor dem Fernseher bequem machen konnte. Udo holte einen dicken Pullover aus seinem Kleiderschrank und zog ihn über, dann machte er sich daran, die Telefonnummer von Zeitarbeitsfirma T. herauszusuchen, aber erreicht hatte er nur den Anrufbeantworter. Er gab Namen, Telefonnummer und Grund seines Anrufes an, dann hatte er für diesen Tag seine Schuldigkeit getan...-

      „Jetzt erst mal was essen!“ Udo hatte seit der Frühstückspause im Betrieb keinen Bissen mehr zu sich genommen und sein Magen knurrte schon den halben Tag. Aber im Kühlschrank fand sich nur ein angebrochenes Päckchen Quark, etwas Marmelade und eine Scheibe Kochschinken. Udo kramte in seiner Hosentasche: Von den dreißig Euro, die er an diesem Morgen mitgenommen hatte, waren ganze zwei Euro übriggeblieben. Fahrtkosten für die S- Bahn und dann auch noch -unvorhergesehenerweise - die Praxisgebühr beim Arzt hatten fast alles verschlungen.-

      Die letzten zwei Euro, die er heute noch ausgeben musste! Und keine Aussicht darauf, dass seine finanzielle Lage sich besserte! Erschöpft vom ständigen Kampf um die Existenz setzte sich Udo in die Küche und das erste Mal seit langen Jahren liefen ihm nun dicke Tränen über das Gesicht. Er holte nun das Rezept hervor, das ihm der Doktor ausgestellt hatte, warf einen Blick darauf und warf es wehmütig in den Karton mit Altpapier, den er in einer Flurecke stehen hatte. Nein, für Medizin war nun wirklich kein Cent mehr übrig! Wer wusste, ob das Rezept nicht Zuzahlungs-pflichtig war? ...-

      In dieser Nacht hielt ihn nicht nur der Husten wach, er bekam auch noch hohes Fieber. Schwitzend kroch er schließlich mitten in der Nacht aus seinem warmen Bett und fahndete in seinem Medikamentenschrank nach einem Fieberthermometer, klemmte es sich unter die Achsel und wartete fast sieben Minuten auf den Piepton: 39,0 Grad! Das war hohes Fieber und er hatte nichts im Haus, um die Temperatur zu senken! Udo kam nun auf die Idee, sich ganz einfach kalte Umschläge zu machen. Er zog zwei große Handtücher aus dem Schrank, hielt sie unter fließendes kaltes Wasser und wrang sie aus. Dann wickelte er sich die Handtücher um die Waden und setzte sich ins Wohnzimmer, das intensiv nach abgestandenem Rauch roch. Er hustete.

      Gern hätte er gelüftet, aber er wollte die spätherbstliche Kälte nicht hereinlassen. Das hätte nämlich erneutes, sofortiges Heizen bedeutet, sonst wäre es in der Wohnung zu kühl für einen Kranken gewesen, denn die Raumtemperatur betrug jetzt schon nur 15 Grad. . Vom Fieber benebelt saß Udo eine geschätzte Dreiviertelstunde auf der Couch, aber die Temperatur wollte trotz der kalten Umschläge nicht weichen, zudem verspürte er nun einen unerträglichen Durst. Mit letzter Kraft suchte er ein zweites Mal seinen Medikamentenschrank durch und wurde schließlich doch noch fündig: In einem fast leeren Blister befanden sich noch zwei Paracetamol. Udo holte sich ein großes Glas Leitungswasser und leerte es mit einem Zug, dann füllte er nach und nahm das Medikament ein.

      Er schleppte sich jetzt wieder ins Wohnzimmer und nach einer halben Ewigkeit fühlte er sich endlich besser. Udo schaltete den Fernseher ein und tauchte für einige Stunden ein in die Welt der Schönen und Superreichen, die gerade in einer Sendung über Very Important Persons auf einem Privatkanal lief.

      „Eigentlich ist es immer dasselbe mit denen“, dachte er. „Im noblen Restaurant können sie sich nicht entscheiden zwischen den winzigen Portionen Kaviar oder Hummer, die sie für so viel Geld ordern, dass ich vermutlich zwei Wochen davon einkaufen könnte.

      Und an ihren exklusiven Urlaubsorten sind sie eifrig bedacht, für die yellow-press im Gespräch zu bleiben. Halbnackt, und so attraktiv wie der Schönheitschirurg sie geschaffen hat, sonnen sich die Luxusweiber auf millionenschweren Yachten von Vielfachmillionären und Milliardären, die ihrerseits wieder darauf bedacht zu sein schienen, dass alle Welt erfährt, was ihre jeweiligen „Traumschiffe“ gekostet haben.“ Abstoßend und dekadent fand Udo die Informationsvermarktung der persönlichen und finanziellen Verhältnisse der Schwerstreichen durch das Fernsehen und irgendwann in den frühen Morgenstunden war er auf dem Sofa eingeschlafen.-

      Drei Tage später kam per Post die Kündigung.

      Fristlos, hieß es in dem Schreiben! Weil er der Firma unentschuldigt ferngeblieben war!

      Udo war fassungslos. Er hatte Zeitarbeitsfirma T. das Attest unverzüglich zugesandt, so wie es im Arbeitsvertrag bei solchen Vorkommnissen festgeschrieben war. Und er war davon ausgegangen, dass die Zeitarbeitsfirma den Betrieb unterrichtete...

      Fristlos - das hieße, er bekäme sein Hartz 4 gekürzt! Zum zweiten Mal in Folge...

      Udo dachte nach: Noch hatte er die Arge nicht unterrichtet über seine Arbeitsaufnahme. Widerrechtlich, das musste er zugeben, aber er hatte sich einfach zu schwach gefühlt um irgendwelche behördlichen Interaktionen zu starten. „Wenn die mir jetzt Geld überweisen für den einen Arbeitstag, m u s s ich die Arge von dem kurzen Beschäftigungsverhältnis unterrichten, sonst gelte ich möglicherweise als Betrüger. Also werde ich auf das Geld verzichten“.

      Jawohl, das war die Lösung! Udo nahm den Telefonhörer in die Hand und wählte die Nummer der Zeitarbeitsfirma T., die er sich auf einen Zettel notiert hatte und erklärte der verdutzten Büroangestellten des Unternehmens seinen Verzicht auf den Lohn.-

      Udo war fleißig in den darauffolgenden Tagen. Fast ununterbrochen hatte er im Internet nach Stellenangeboten gesucht doch es war schwerer als man glauben mochte, auch nur drei für ihn passende Angebote herauszufiltern; eine Sisyphusarbeit, die höchste Konzentration erforderte! Und keine einzige seiner Bemühungen war von Erfolg gekrönt!

      Wenn er doch wenigstens einen Nebenjob bekäme! Aber selbst als