Christoph Wagner

Waldesruh


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hielt, was die Preise versprachen. Er aß mit großem Appetit, Bernhard wohl auch. Aber den beiden anderen merkte er an, dass sie einen Besuch bei McDonalds vorgezogen hätten. Denn während er sich länger mit Bernhard unterhielt, schnappte er Kommentare auf wie „nicht gerade der Gaumenfick“ oder „is was für Kompostis“, und als eine Gruppe älterer Damen das Lokal betrat, „voll das Krampfaderngeschwader“.

      Zu Hause verzogen sich dann alle drei erstaunlich schnell in ihre Betten. Schneeluft macht müde, dachte er und wusste, dass er es auch nicht mehr lange machen würde. Er wollte den Abend noch mit schöner Musik ausklingen lassen und entschied sich für Orgelmusik von Bach. Als er gerade eine CD einlegen wollte, klingelte das Telefon.

      „O nein, bitte jetzt nichts vom Präsidium!“, erschrak er und sandte ein Stoßgebet gen Himmel.

      „Travniczek“, meldete er sich mit neutraler Stimme.

      „Marion hier!“

      Solms wäre ihm jetzt doch lieber gewesen.

      „Sind die Kinder bei dir?“

      Marion schien in heller Panik zu sein. Dennoch (oder gerade deswegen?!) antwortete er mit einer Gegenfrage: „Was ist mit ihnen?“

      „Was mit ihnen ist? Frag nicht so blöd, sie sind weg! Sonst würde ich dich nicht anrufen.“

      „Seit wann?“ Er gab sich provozierend gleichgültig, während seine Ex mit jedem Satz aggressiver wurde.

      „Was weiß ich? Ich war mit Florian und dem Kleinen bei den Schwiegereltern. Gestern früh sind wir gefahren und vor einer Stunde zurückgekommen.“

      „Es ist doch noch nicht so spät. Vielleicht sind sie ja noch irgendwo unterwegs, so klein sind sie ja schließlich nicht mehr.“

      „Das hab ich zuerst auch gedacht, aber dann hab ich gesehen, dass sie ihr Toilettenzeug mitgenommen haben und dass zwei Koffer fehlen!“

      „Dann sind sie wohl verreist. Schließlich sind Ferien.“

      „Willst du dich über mich lustig machen? Es sind schließlich auch deine Kinder!“

      „Schön, dass du dich daran erinnerst.“

      „Sehr ungern. Aber was bleibt mir übrig?“

      „Ich sag dir mal was.“ Seine Stimme wurde jetzt eiskalt. „Sie sind nicht verreist, sie sind geflohen.“

      „Was soll das jetzt?“

      „Um deine erste Frage zu beantworten: Seit gestern Abend sind sie hier. Bernhard hat sie rausgeholt.“

      „Was heißt ‚rausgeholt‘? Seid ihr jetzt alle verrückt geworden? Warum sagst du nicht gleich, dass sie bei dir zu Besuch sind?“

      „Du verstehst mich nicht: nicht zu Besuch. Sie sind geflohen.“

      „Du redest Blödsinn! Oder soll das etwa heißen, du willst sie bei dir behalten?“

      Travniczek wunderte sich, wie selbstsicher er war. Das war ihm früher bei Gesprächen mit Marion nie gelungen.

      „Wieder falsch. Nicht ich will sie behalten. Sie wollen bei mir bleiben, weil sie’s bei euch nicht mehr aushalten. Und als ihr Vater habe ich das zu akzeptieren.“

      „Oh, wie ich dich hasse! Du scherst dich um keine Vereinbarungen. Im Scheidungsurteil steht, die Kinder bleiben bei mir!“

      „Stimmt! Das steht dort. Aber wenn du einen neuen Ehemann an Land ziehst, den die Kinder nicht mögen, der auch noch deiner Tochter nachsteigt und du das Problem nicht in den Griff kriegst, darfst du dich nicht wundern, wenn sie abhauen.“

      „So ist das doch gar nicht! Das mit dem ‚Nachsteigen‘ ist doch Unfug. Reine Pubertätsphantasie.“

      „Woher bist du dir da so sicher?“

      „Weil Florian nicht auf kleine Mädchen steht.“

      „So, tut er das nicht?“

      „Nein. Das würde ich merken, als Frau.“

      „Dem Argument kann ich schlecht widersprechen. Da fehlt mir die praktische Erfahrung.“

      „Aha, jetzt gibst du doch klein bei.“

      „Von wegen. Wir sind eigentlich fertig. Die Kinder wollen hier bleiben. Also bleiben sie hier.“

      „Das akzeptiere ich nicht! Morgen gehe ich zu meinem Anwalt.“

      „Tu, was du nicht lassen kannst. Aber es ist schade ums Geld. Der wird dir nichts anderes sagen als ich.“

      Sie hatte aufgelegt.

      Kopfschüttelnd starrte er auf den Telefonhörer, den er noch krampfhaft in der Hand hielt. Wieder so ein Gespräch, wie er es schon tausendmal geführt hatte. Sie schienen verschiedene Sprachen zu sprechen.

      „Ich akzeptiere nicht …“. Das war Marions Standardsatz, den er in den Jahren seiner Ehe immer wieder gehört hatte. Und jedes Mal dachte er, ihr doch ganz deutlich klargemacht zu haben, dass es um Tatsachen ging, die man einfach akzeptieren musste. Drückte er sich nicht deutlich genug aus oder hielt er für Tatsachen, was gar keine waren? Versagte im Gespräch mit Marion sein logisches Denkvermögen oder konnte sie seine Gedankengänge nicht nachvollziehen?

      Wahrscheinlich, so machte er sich nach einer Weile klar und musste lachen, saß sie jetzt genau wie er vor dem Telefon und beschwerte sich darüber, dass er sie nie verstand, obwohl sie sich doch immer ganz klar und deutlich ausgedrückt hatte.

      Mäuschen möchte ich jetzt sein, dachte er, und in München die Gespräche zwischen ihr und ihrem Florian mithören. Wie die wohl abliefen? Völlig anders als gerade eben? Er konnte das nicht wirklich glauben.

      Mit einer energischen Bewegung legte er endlich den Hörer auf, öffnete vorsichtig, um niemanden zu wecken, seine Zimmertür und holte mehrere Flaschen von seinem Grünen Veltliner aus dem Keller. Zurück in seinem Zimmer entkorkte er eine, goss sich ein und startete die CD mit Orgelmusik von Bach. Das unerfreuliche Gespräch mit Marion, seine Ängste, den Kindern wieder nicht gerecht zu werden, seine Unfähigkeit, das praktische Leben zufriedenstellend zu meistern, das alles löste sich auf in der unendlichen Klarheit der bachschen Musik.

      Tagebuch - 21.2.

      Heute war es wieder ganz schlimm. Vater hörte mich englische Vokabeln ab. Lange habe ich alle gewußt. „Freu dich nicht zu früh. Ich finde sicher welche, die du nicht kannst“, hat er dann gesagt und hat böse gelacht. Dann wußte ich nicht, was „siegen“ heißt. Vater wurde zornig und fragte weiter, immer schneller. Und dann wußte ich auch nicht, was „Vaterland“ heißt. Da riß er mich von meinem Stuhl hoch und verprügelte mich in seinem Arbeitszimmer mit seinem Gürtel. Als er endlich fertig war, stieß er mich mit dem Fuß aus dem Zimmer. Ich fiel hin. Jetzt tut der Arm furchtbar weh. Und dann hat mich noch mein Bruder einfach ausgelacht. Ihn schlägt Papa nie.

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