Team epubli

100 Tage


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      Die Kinder spielten fangen im Garten. Sie lachten so viel wie lange nicht mehr. Wenn sie spielten, vergaßen sie ihre Sorgen und waren unbeschwert, wie es Kinder sein sollten.

      Liam und Amanda hockten im Obstbeet und pflückten verschiedene Beeren von den Sträuchern. Das würde einige leckere Kuchen geben. Sie hatten schon drei Schalen voll gepflückt und die Sträucher wollten nicht leer werden.

      „Charlie ist schnell.“, sagte Amanda.

      Sie hatte kurz aufgesehen und die Kinder beobachtet, wie sie durch den Garten rannten und Charlie zu entkommen versuchten. Er war wirklich flink. Liam legte eine Rispe in eine Schale und blickte Charlie nach, der jetzt Ariana hinterher rannte. Sie war ein Jahr jünger als er und ein auffällig hübsches Mädchen. Sie war erst seit zwei Jahren im Waisenhaus und schon seit Liam sie kannte, war sie nicht gesprächig gewesen. Sie weinte oft, aber ließ sich von niemandem trösten. Über ihre Vergangenheit verlor sie nie ein Wort, man wusste von ihr nur, dass ihre Eltern tot waren.

      „Amanda kann ihm locker das Wasser reichen.“, sagte Liam.

      Sie hüpfte wie ein Reh vor Charlie weg. Die anderen feuerten Ariana an, die nicht so aus sah, als würde ihr bald die Puste ausgehen.

      Liam und Amanda steckte die gute Laune der Kinder an. Sie hielten eine Weile mit dem Pflücken ein.

      Nach mehreren Minuten gab Charlie die Verfolgungsjagd auf und ließ sich schwer atmend auf die Wiese plumpsen. Ariana lachte siegessicher.

      „Du lässt ein Mädchen gewinnen?“, rief Jordan.

      Er lachte hämisch und die anderen stimmten mit ein.

      Charlie war wirklich fertig. Er hielt sich die schmerzende Seite und schnaufte.

      Liam witterte Gefahr. Charlie konnte von einer auf die andere Sekunde seine Beherrschung verlieren. In den letzten Wochen hatten sie zusammen eine Mauer aufgebaut, aber es war noch zu keiner Situation gekommen, in der sie einsturzgefährdet war.

      Charlie stand nicht auf, um weiter den Fänger zu spielen. Er wurde auch nicht wütend, obwohl ihn alle Kinder auslachten.

      Zu Liams Erstaunen blieb er völlig ruhig und sagte: „Das tue ich.“

      Dann lächelte er Ariana vorsichtig an, die ihn erstaunt ansah.

      Sie fürchtete sich vor Charlie. Er war gewalttätig und machte ihr mit seinen Wutausbrüchen Angst. Doch jetzt fand sie ihn zum ersten mal nett. Er hatte sie immerhin gewinnen lassen. Obwohl sie auch nicht glaubte, er könnte sie fangen. Dafür war er nicht schnell genug.

      Charlie war nicht wirklich enttäuscht, aufgegeben zu haben. Vielmehr wunderte er sich, dass Ariana so schnell rennen konnte. Er bewunderte sie sogar. Die anderen suchten einen neuen Fänger aus und spielten weiter. Er rutschte an den Zaun und verfolgte Ariana mit seinem Blick.

      Sie konnte ihn sicher nicht leiden. Wer konnte das schon. Schließlich machte er sich andauernd selbst mit seiner Grobheit unbeliebt.

      Ihm wurde klar, als er dort auf der Wiese saß und sich an den Zaun lehnte, dass es ihm gar nicht so egal war, was die anderen von ihm hielten, wie er es sich immer eingeredet hatte. Es machte ihm sehr wohl etwas aus, wenn sie ihn nicht mochten. Besonders von Ariana wollte er, dass sie ihn mochte, aber das war ein dummer Wunsch, denn das würde sie eh niemals tun. Sie hasste ihn bestimmt sogar.

      Charlie beschloss, die Leute besser in Ruhe zu lassen, sie wollten ja doch nichts mit ihm zu tun haben.

      Liam bemerkte seine Bedrücktheit sofort. Er sah auf einmal traurig aus oder verletzt, wie Liam es selten bei Charlie wahrnahm.

      „Entschuldige mich.“, sagte Liam zu Amanda.

      Er stand auf und bahnte sich einen Weg durch die Sträucher. Charlie sah auf, als er sich ihm näherte.

      „Lässt du jetzt Amanda die Arbeit machen?“, fragte Charlie, etwas zu anschuldigend, als er es beabsichtigt hatte.

      Aber Liam störte sich nicht daran.

      „Was bedrückt dich?“, fragte er.

      Charlie zögerte und kaute nervös auf seiner Lippe herum. Liam setzte sich neben ihn und schlang die Arme um die Knie. Er stützte sein Kinn darauf ab und vermied es absichtlich, Charlie aufdringlich anzusehen. Er wartete einfach ab und war sich sicher, dass Charlie sprechen würde, wenn er wollte. Zwingen konnte er ihn nicht. Er hielt es auch für klüger, Charlie selbst zu überlassen, was er ihm anvertrauen wollte, denn so gewann er sein Vertrauen noch am Ehesten.

      Liam lag richtig, Charlie begann nach einer Weile zu sprechen.

      „Keiner von ihnen mag mich.“

      „Das stimmt doch überhaupt nicht.“

      „Ach ja? Und warum will dann niemand mit mir befreundet sein? Sie finden mich blöd, ich weiß das, du brauchst es nicht freundlicherweise abzustreiten. Vielen Dank.“

      Liam sah Charlie nun doch an. Charlie sah trotzig aus und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

      „Das stimmt nicht.“

      Charlies Blick wurde finster. Er zog die Brauen zusammen. Liam log ihn an, das gefiel ihm gar nicht.

      „Du hast doch keine Ahnung.“, sagte er und starrte stur weg.

      „Und ob ich die habe. Das ist nicht der Grund, warum sie zu dir Distanz halten.“

      Liam meinte, in Charlies Augen Neugierde aufblitzen zu sehen, als er seinen Kopf ruckartig zu ihm drehte.

      „Sie haben Angst vor dir, Charlie.“

      Er sagte es vorsichtig und bekam die Reaktion zu sehen, die er erwartet hatte. Der Junge war überrascht, erschrocken.

      „Angst?“, fragte er perplex.

      „Aber das können wir ändern. Wir kriegen das hin.“

      „Sie fürchten sich vor mir?“

      Charlie starrte mit leerem Blick geradeaus.

      „Sie stufen dich als gefährlich ein. Du bist für sie unberechenbar und deswegen meiden sie deine Gesellschaft lieber.“, sagte Liam.

      „Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Meinst du wirklich, es liegt nur daran? Kann ich das ändern?“

      „Einige haben es mir selbst erzählt. Du kannst mir glauben, das ist der Grund.“

      Charlie blickte wieder zu Ariana, die gerade herum stand und wartete, dass der neue Fänger in ihre Nähe kam. Liam fiel Charlies Blick auf und erklärte seine Vermutung für bestätigt.

      „So wie ich dich kenne, würde sie dich auch mögen.“, sagte er.

      Charlie errötete, fühlte sich peinlich ertappt, aber zu gleich ungewohnt geschmeichelt. Vielleicht hatte Liam ja recht.

      Ariana schaute in diesem Moment zu ihnen rüber. Um ihre Lippen bildete sich ein winzig kleines, dezentes Lächeln.

      Die Frau war bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die beiden jungen Männer, die unbemerkt über den Zaun geklettert waren, hatten sie angegriffen und verprügelt. Was sie dazu geritten hatte, war unklar. Wahrscheinlich einfach ein Wutausbruch, der bei den Leuten auf der anderen Seite des Zauns häufig vorkam. Viel zu häufig. Sie zeigten den Reichen, so viel intelligenteren Leuten, dass sie sich nicht beherrschen konnten. Das war wirklich nicht sonderlich klug. Sie riskierten damit ihr Leben. So wie diese beiden brutalen Männer, die er und sein Kollege, der in dieser Nacht mit ihm im Dienst war, festgenommen hatten und abführten.

      Sie schwiegen und gingen wehrlos mit. Er schätzte sie auf höchstens zwanzig, in seinen Augen zu jung zum Sterben, doch wer Dummheiten beging, musste dafür bezahlen. Corvin war ein gerechter Herrscher, ein guter, kluger Mann.

      Bevor er wieder daran zu zweifeln begann, ließ er den Gedanken an seinen Arbeitgeber