Team epubli

100 Tage


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Buch fiel ihm aus den Händen und landete aufgeschlagen auf dem Boden. Er hielt sich mit einer Hand an der Leiter fest und drehte sich um. Caspar bückte sich und hob das große, schwarze Buch auf.

      „Entschuldige.“, sagte er.

      „Nichts passiert.“

      Danish stieg die Leitersprossen hinab.

      Als er vor seinem wesentlich größeren Vater stand, streckte er die Hände nach dem Buch aus. Caspar reichte es ihm.

      „Sag mir“, setzte dieser dann wieder an, „warum die Klugen unter ihnen nichts tun.“

      Sein Blick wanderte an den Regalen entlang und streifte die Bücher, bis er zu Danish hinunter blickte. Dieser erkannte sofort den Kummer in seines Vaters Augen.

      „Weil sie feige sind.“

      Caspar hatte diese Antwort erwartet. Er seufzte tief.

      „Das sagte Arwan auch schon. Ich hatte mir jedoch erhofft, von dir etwas anderes zu hören.“

      „Und ich kann dir nichts anderes als die Wahrheit erzählen.“

      Caspar nickte nachdenklich und verschränkte die Arme vor der Brust. Danish ging mit dem Buch in der Hand zum Kamin, blieb davor stehen und rang mit sich. Das Feuer knisterte leise vor sich hin. Die Flammen tanzten fröhlich über den verkohlten Holzscheiten.

      Caspar trat neben ihn. In Danishs starren Augen spiegelten sich die leuchtenden Flammen.

      „Was hast du vor?“

      „Das tun, was ich tun muss.“

      Bevor Caspar ihn aufhalten konnte, warf Danish das Buch ins Feuer. Die Flammen loderten auf und stiegen höher.

      „Was soll das?“, fragte Caspar entsetzt.

      Er musste mit ansehen, wie das Buch verbrannte und das Wissen, das darin stand, vernichtet wurde. Unterdessen hielt Danish mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen Kopf.

      Es fühlte sich an, als brannte auch in ihm ein Feuer und wollte sein Gehirn versengen. Vor Schmerz stöhnt er auf.

      Caspar wandte seinen Blick von dem verbrennenden Buch ab.

      „Warum tust du das?“

      Entsetzt sah er Danish leiden, der vor Schmerzen nicht fähig war zu sprechen. Seine Knie begannen zu zittern. Caspar fing ihn auf, als er in sich zusammen klappte. Er kniete sich mit seinem Sohn in den Armen auf den Boden und strich ihm über das helle Haar.

      Dann sah er mit an, wie das Buch zu Asche wurde. Die Flammen legten sich gierig um es und verschlangen es.

      Danish öffnete langsam die Augen.

      „Ich konnte den Menschen das Wissen über das Schießpulver nicht länger zugänglich machen. In Zukunft wird es keine Schusswaffenproduktion mehr geben.“, murmelte er geschwächt.

      Caspar sah ihn betrübt an. „Du hast dich selbst verletzt.“

      Eine Seifenblase zerplatzte, als sie sie mit dem Finger leicht berührte. Es gab ein leises Plopp und die Blase, gefüllt mit Schwärze, löste sich in Luft auf.

      Sitara hielt die Hände übereinander und formte in den bloßen Handfläche eine neue, schönere Seifenblase, in der weißer Nebel wirbelte. In dem Nebel bildete sich ein Traumbild. Eine grüne Wiese, darüber ein strahlend blauer Himmel und Blumen, die aus der Erde sprießten.

      Sitara lächelte zufrieden und ließ die Seifenblase mit dem schönen Traum von ihrer Handfläche in den Himmel gleiten. Sie war ganz leicht und stieg augenblicklich hoch hinauf.

      Es schwebten noch viele andere Albträume in greifbarer Nähe. Je schlimmer und grausamer der Traum, desto schwerer wurde die Seifenblase und sank immer weiter Richtung Boden.

      Sitara ging in die Knie und zerplatzte einen Albtraum, der ganz knapp über ihren Füßen geschwebt hatte. Sofort formte sie einen neuen Traum und schickte ihn in den Himmel.

      Am Nachthimmel schwebten die schönen Träume wie bunte Sterne. Sitara war ein wenig müde und gähnte herzhaft. Es war noch so viel Arbeit in dieser Nacht zu erledigen.

      Sie stand auf, ermutigte sich, bald Schlafengehen zu können und hüpfte auf der Wiese entlang, mit beiden Händen die Albträume zerplatzend und in Windeseile neue formend.

      Währenddessen ging Caspar in seinem Raum auf und ab, die Hände hinterm Rücken verschränkt, die Stirn in tiefe Falten gelegt. Sein weinroter Mantel strich auf dem Boden entlang.

      Die Kerzen flackerten. Einige heruntergebrannte erloschen lautlos. Die Dochte rauchten, dann verglühten sie gänzlich. Kaum ein paar Sekunden vergingen, da türmte sich der geschmolzene Wachs zu einer neuen Kerze auf und der Docht entzündete sich wie von Zauberhand wieder von selbst.

      Caspar interessierte das alles nicht. Er war in Gedanken vertieft, die finsterer waren, als ein Raum ganz ohne Licht.

      Egal, welchen Gedankengang er einschlug, er endete immer wieder am selben Ausgang, als wäre sein Passieren unabwendbar.

      Es musste eine andere Lösung geben. Diese konnte es nicht sein. Sie war zu schrecklich. Zu grausam. Er war kein Zerstörer.

      Er war der Hüter des Lebens.

      Er ging noch zehn mal im Kreis, ging in Gedanken erneut und erneut den Weg ab, doch er kam immer wieder dort an, wo er schon etliche vorherigen Male angekommen war.

      Wenn er keine andere Lösung fand, keinen anderen Ausweg, gab es dann eine andere Möglichkeit?

      Konnte er es irgendwie verhindern, seine geliebten Kinder zu schützen, ohne die Menschen dafür mit dem Leben bezahlen zu lassen?

      Doch warum sollte er die Menschen schützen? Sie hatten es sich alles selbst verschuldet, sie hatten ihn, Caspar, in die Enge getrieben, die von ihm eine Entscheidung verlangte.

      Weshalb sollte er nun Gnade zeigen, denen, die sie selbst nicht kannten, die haltlos vor keiner Grausamkeit zurückschreckten?

      Sie hatten es nicht anders verdient. Viel zu lange hatte er sie unbestraft gelassen und mit ansehen müssen, wie sie seine Kinder ins Verderben trieben.

      Wer rücksichtslos war, musste auch so behandelt werden.

      Er würde niemanden verschonen können. Sie waren doch alle gleich, einer nicht besser als der andere. Durchtrieben vom Bösem.

      Caspar drehte sich langsam zu den Kerzen um.

      Er sah die brennenden Lichter vor sich und war sich seiner Macht im vollen Maße bewusst. Er wollte sie nun gebrauchen.

      Er ging näher heran und spürte die Hitze, die von den vielen kleinen Flammen ausgestrahlt wurde.

      Ihre Körper waren warm, voller Leben. Pustete er die Kerzen aus, würden sie kalt werden und das Leben aus ihnen entschwinden.

      Die heiße Wut auf die Menschen kochte in ihm auf. Mörder hatten nichts anderes als den Tod verdient. Seine Kinder würden sie nicht um ihr kostbares Leben bringen.

      „Genug!“, sagte er mit mächtiger, hallender Stimme.

      Die Flammen erzitterten unter seinem Atem, als hätten sie Angst vor ihm

      „Genug.“, sagte er noch einmal, diesmal murmelnd. „Es ist genug.“

      Er holte tief Luft und bereitete sich darauf vor, sie mit all seiner Kraft auszublasen.

      Die Flügeltür wurde aufgestoßen. Aviram stürmte herein.

      „Hör auf!“, schrie er seinen Vater an.

      Er stand im nächsten Augenblick neben ihm und packte ihn fest am Arm. Doch obwohl er unglaublich stark war, lockerte Caspar ohne Bemühen seinen Griff und schubste ihn von sich weg.

      Er holte erneut Luft, sammelte sie in seinem geschlossenen Mund und wollte ihn gerade öffnen, als Dilara sich in den Raum schleppte, gestützt von Kaneschka.

      Caspar