Team epubli

100 Tage


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doch er ging immer wieder zum Truck, nahm eine Kiste und brachte sie zum Verkaufsstand, während die anderen sich eine Pause genehmigten.

      „Liam.“, hörte er seinen Namen und drehte sich nach der Stimme um.

      Es war sein Kindheitsfreund Jonas. Er warf ihm eine Wasserflasche zu. Er fing sie auf und bedankte sich. In wenigen Schlücken trank er die Flasche leer.

      „Übernimm dich nicht.“, meinte Jonas.

      Er runzelte fast ein wenig besorgt die Stirn. Jonas war ein Jahr jünger als William und kam erst mit zehn Jahren ins Waisenhaus, wo man ihn mit seinem seit nun acht Jahren besten Freund in ein Zimmer steckte. Beide Jungen hatten schreckliche Dinge erlebt, die man ihnen nie gewünscht hätte. Doch es war geschehen und nicht zu ändern. Wäre es anders gekommen, wären sie beide heute ganz andere Menschen und hätten sich vielleicht gar nicht kennen gelernt. Dann wäre zwischen ihnen auch keine dicke Freundschaft entstanden.

      Liam hatte dem Schicksal vergeben und sich zu einem jungen Mann mit einer guten Seele entwickelt. Er war hilfsbereit, fleißig und ein kluger Kopf. Man könnte sich nun fragen, warum er auf dem Markt arbeitete und Kisten schleppte, statt in der Universität zu sitzen und Klausuren zu schreiben. Die Antwort war einfach, aber ungerecht. Ihm fehlte das Geld zum Studieren.

      Unumstritten war er klüger als viele anderen in seinem Alter, die ein Studium begannen, doch er konnte noch so schlau sein, wenn er kein Geld hatte, brachte ihm das gar nichts.

      Für seinen achtzehnten Geburtstag hatten die Betreuer und Arbeiter im Waisenhaus eine beachtliche Summe zusammen gespart und es hätte wunderlicherweise gereicht, sein erstes Studienjahr zu finanzieren, doch er hatte, so selbstlos und bescheiden wie er war, es nicht annehmen können und blieb auf dieser Seite des Zauns, obgleich es seine einmalige Chance gewesen wäre, der Armut zu entkommen und sich eine großartige Zukunft aufzubauen.

      Wenn er studiert hätte, wäre es Medizin gewesen. Er verstand sich mit der Heilkunst und hatte schon einige Leute vor Schlimmerem bewahrt. Sie wollten ihn dafür mit Geld belohnen, doch mehr als ein paar Münzen nahm er nie und diese auch nur aus reiner Höflichkeit, weil die Menschen ihn regelrecht anbettelten, etwas von ihnen anzunehmen.

      Auch für seinen Job auf dem Markt bekam er kaum Geld und hätte sich damit nicht mal eine Wohnung finanzieren können, aber das wollte er auch gar nicht.

      Denn er hing sehr an dem Waisenhaus, in dem er aufgewachsen war und hatte nicht die Absicht, es in absehbarer Zeit zu verlassen. Es war sein Zuhause geworden und alle, die dort arbeiteten und wohnten, besonders die Kinder, waren ihm ans Herz gewachsen und gehörten zu seiner Familie. Er schätzte sich glücklich, eine so große Familie gefunden zu haben.

      Jonas war vor einem Jahr ausgezogen und lebte mit seiner Freundin in einer winzigen Wohnung. Er besuchte das Waisenhaus so oft er konnte. Die beiden Männer halfen, wo sie konnten, doch es war Liam, der nie ruhte, denn erst, kurz bevor er sich schlafen legte, hörte er auf zu arbeiten. Er war der Meinung, dass es immer etwas zu tun gab.

      Jonas sagte ihm nicht zum Ersten mal, er solle sich nicht übernehmen. Liam hörte allerdings selten auf seinen Freund; auch jetzt ging er wieder zum Wagen und packte eine Kiste. Jonas kam ihm hinter her, seufzte und hievte selbst eine Kiste hoch.

      „Denkst du, für uns springt heute auch mehr raus?“, fragte er und sah Liam mit rotem Kopf an.

      Er schnaufte, als er den ersten Schritt mit der schweren Last tat. Es war ein guter, aber anstrengender Tag und dafür erhoffte sich Jonas auch einen besseren Lohn.

      Liams Gesichtsfarbe war noch normal, doch seine Armmuskeln zitterten.

      „Du kannst von meinem Lohn einen Teil ab haben. Schließlich musst du eine Wohnung bezahlen, die nicht billig ist. Ich habe ein kostenloses Dach überm Kopf.“

      Er grinste.

      Jonas schüttelte bestimmt den Kopf. Er wollte seinen Freund nicht um seine letzten Münzen bringen. Alles, was er verdiente kam in die Kasse des Waisenhauses. Für sich behielt Liam nie etwas zurück.

      „Wann hast du dir das letzte Mal etwas für dich gekauft?“, fragte Jonas.

      Er ließ die Kartoffelkiste unsanft auf den Boden fallen. Sofort schrie ihn ein Bauer an, der eben noch lachend mit einem Kunden verhandelt hatte.

      „Pass doch auf!“

      Jonas entschuldigte sich schnell und hob die Kartoffeln auf, die hinaus gefallen waren. Liam bückte sich und half ihm beim Auflesen.

      „Mir mangelt es an nichts.“, sagte er.

      Jonas hielt inne, richtete sich auf, zog zweifelnd die Augenbrauen in die Höhe und seufzte. Sein Blick fiel auf den großen Fleck auf Liams T-Shirt, der nicht auszuwaschen war und wanderte hinunter zu den ausgefransten, zu kurzen Hosenbeinen.

      „In dem Aufzug ist es kein Wunder, dass du keinem Mädchen auffällst. Die Hose ist mindestens drei Jahre alt, das T-Shirt habe ich schon mal an einem der Jungs im Heim gesehen.“

      Liam verzog den Mund und machte kehrt, die nächste Kiste holen, doch Jonas packte ihn am Handgelenk und zwang ihn, sich ihm wieder zuzuwenden.

      „Das war keine Beleidigung.“

      Liam schüttelte den Kopf. „Nein, bloß ein gutgemeinter Ratschlag meines besten Freundes. Ich schätze deine Ratschläge sehr, aber es ist nun mal nicht, worauf ich aus bin. Warum sollte ich mir neue Sachen kaufen, wenn diese noch ihren Zweck erfüllen? Und was Mädchen angeht...“

      „Willst du eine, der es egal ist, was du trägst.“

      Liam nickte.

      „Du bist viel zu beschäftigt. Dir würde es gar nicht auffallen, wenn dir eine hinterher gucken würde.“

      Darauf zuckte er die Schultern. „Solange es kein Mädchen gibt, dass mich von der Arbeit ablenkt, lasse ich mich auch von keiner ablenken.“

      Jonas verdrehte die Augen, lächelte aber. „Du bist der pragmatischste Mensch, den ich kenne.“

      Liam erwiderte nichts und ging erneut zum Truck.

      Es dämmerte, als die beiden Freunde sich auf der Straße trennten und sich in die entgegengesetzten Richtung davon machten. Liam schlenderte in den letzten warmen Sonnenstrahlen nach Hause und ließ sich von ihnen sein Gesicht wärmen. Seine Haut hatte eine gesunde Bräune, weil sie an den Tagen, an denen Markt war, permanent der Sonne ausgesetzt war, die schon relativ stark strahlte.

      Seine Muskeln schmerzten, aber es störte ihn nicht, denn der Schmerz war nur vorübergehend und machte ihn stärker.

      Er hatte einen weiten Weg bis zum Waisenhaus, den er jeden zweiten Tag ging. Zu dieser Uhrzeit aßen die meisten zu Abend und die Straßen waren leer gefegt, bis auf ein paar streunende Katzen, die sich auf Essenssuche begaben.

      Ein weißes Tier, dessen Fell allerdings so schmutzig war, dass es grau wirkte, kam auf Liam zu und setzte sich einen Meter vor ihm auf den Boden. Es reckte den Kopf zu ihm in die Höhe und sah ihn hungrig an.

      Er blieb stehen und kramte in seiner Hosentasche. Ganz unten ertastete er einen Rest Futter, den er für die Tiere immer dabei hatte. Das Waisenhaus nannte sich stolzer Besitzer von drei gefräßigen Katzen, aus deren Näpfen er ab und zu etwas raus nahm. Die Katzen auf den Straßen hatten das Futter viel dringender nötig.

      Er bückte sich und öffnete die Hand. Die Katze sprang mit einem Satz auf ihn zu und verschlang gierig das Futter von seiner Handfläche. Er kraulte ihr den Kopf, kam aus der Hocke wieder in den Stand und setzte seinen Weg weiter fort.

      Das Abendessen war nahezu beendet, als Liam in den Speiseraum kam, wo alle an den Tischen saßen und sich lautstark unterhielten.

      Er setzte sich mit einem Teller Suppe an einen Tisch zu Amanda, die so alt wie er war und keine Arbeit hatte, weswegen sie sich auch keine eigene Wohnung leisten konnte.

      Aber eigentlich war sie noch genauso wenig bereit, das Heim zu verlassen, wie Liam. Den ganzen Tag war sie damit beschäftigt, den Kinder essen zu machen